Martin Heidegger
Die Frage ist sogleich zweideutig; sie kann meinen: das Sein des Seienden; was das Seiende als solches ist (Leitfrage steht schon in der „Unterscheidung“ — dem Ursprung?); so gefragt, ist es die Frage, mit der die abendländische Philosophie ihren Anfang nahm und wodurch ihr Fortgang und ihr Ende geleitet wurde.
Es ist die Leitfrage der abendländischen Philosophie. (In ihrem Gefolge kam es schulmäßig zu „Ontologien“. Alle Ontologien bleiben im Bereich dieser Frage.)
Die Frage nach dem Sein — kann aber auch meinen: das Wesen des Seins selbst -was das Sein sei (nicht das Seiende); es ist die Frage, die gegenüber der Leitfrage erst gestellt und als Frage in ihrer Notwendigkeit erfahrbar gemacht werden muß. In ihr wird das Wesen des Seins selbst gesucht — das, von woher und wodurch es als das Sein west; diese Frage ist die Grundfrage, auf die die bisherige Leitfrage zurück gebracht werden muß. Sie ist die eigentliche Seinsfrage. Aus ihr bestimmt sich Recht und Art und Dringlichkeit der Leitfrage.
Die Grundfrage — nach dem Wesen ~es Seins selbst — nicht nur und erst des Seienden — stellt das Sein selbst noch in Frage — rückt es also im voraus noch in einen, noch zu bestimmenden Bereich, aus dem es die Offenbarkeit seines eigenen Wesens empfängt- seine Wahrheit.
In der Grundfrage liegt daher im voraus die Frage nach der Wahrheit selbst. Diese Frage heiße daher die Vor-frage. Nicht deshalb, weil sie zuerst gestellt und bewältigt werden müßte, sondern weil sie und allem Fragen immer vorausspringt - gerade wenn sie als solche Frage nicht eigens begriffen ist. Sie bleibt diese Vorspringende Frage aber nur in der Zugehörigkeit zur Grundfrage — nicht an sich.
So kündigt sich eine eigentümliche Verklammerung der Grundfrage, der Leitfrage, der Vorfrage an und diese Einheit umschreibt das, was unbestimmt die Seinsfrage genannt sei.
Wird die so verstandene Seinsfrage gestellt, dann muß über das Sein selbst noch hinaus gegangen werden. Sein und — ein Anderes kommt dann zur Sprache. Das Andere muß dann jenes sein, worin das Sein die Wesung und die Wahrheit (Lichtung — Verbergung) hat — ja jenes, worin die Wahrheit selbst — ihre Wesung hat. (ausführlicher—; Verdeutlichung der Sinn-frage)
Die eigentliche und volle Frage nach dem Sein läßt sich daher anzeigen durch einen Titel von der Art Sein und ... Dieser Titel ist dann die Nennung einer Fragestellung (vgl. S. 13).
Worin aber das Sein selbst die Wesung hat — wie sollen wir das wissen? Wenn wir es nicht willkürlich erfinden dürfen, müssen wir suchen. Und soll das Suchen nicht ziellos sich zerstreuen, dann bedarf es der Weisung. Diese kann nur aus dem kommen, was uns geschichtlich trägt und führt- aus der Art, wie die Wahrheit des Seins die abendländische Geschichte durchherrscht. Und dies kündigt sich für den Umkreis unserer Absicht am deutlichsten an durch die Gestalt, in der die Seinsfrage bisher gefragt und bewältigt wird .. Das ist die Leitfrage, die fragt: τί τὸ ὄν - was das Seiende sei. So vielfältig die Behandlung dieser Frage und ihrer Bewältigung im Verlauf der abendländischen Geschichte sein mag, alles ist doch vorgezeichnet durch die im ersten Anfang gesetzten Möglichkeiten und alles bleibt in den damit gezogenen Grenzen.
Die Grundfrage — was das Sein selbst sei — ist in der Abfolge des Fragens die spätere und zwar notwendig; obgleich sie als die jüngste — erst genannte gelten muß, bleibt sie der Sache nach die älteste. Sie ist anfänglicher als der erste Anfang und in ihr geschieht daher der andere Anfang. Aber gerade deshalb ist die Grundfrage dem ersten bisherigen Anfang und seiner Geschichte unauslöslich [sic!] verbunden, so daß all dieses durch die Grundfrage ursprünglicher zu sich selbst kommt und erneut geschichtlich wird.
Das Fragen nach dem Sein, in der Weise der vollen und eigentlichen Seinsfrage, übernimmt nichts Geringeres als die Rettung und Bewahrung des verborgensten und reichsten Grundes der abendländischen Geschichte und damit des Schicksals der europäischen Völker.
Die Übernahme der Überlieferung jedoch gelingt niemals durch ein äußerliches Erneuern des Gewesenen, sondern nur im schaffenden — selbst fragenden Kampf um das Künftige.
Deshalb gibt es künftig keine wesentliche denkerische Bemühung, die sich nicht frei in die Botmäßigkeit zum Wesenhaften der ganzen abendländischen Seinsüberlieferung stellte. Und daher muß auch jede Rettung dieser Überlieferung getragen und befeuert werden von einem neuen der eigensten Not entwachsenden — selbst vorgehenden Fragen. Durch die höchste Freistellung gegen den ersten Anfang wird dieser selbst erst wieder frei in seiner bindenden Kraft, um entscheidende Weisungen dem neuen Fragen, d.h. dem Fragen der Grundfrage zu schenken. Die Weisung aber, deren wir vor allem bedürfen, ist der Hinweis auf das, worin das Sein selbst seine Wesung und Wahrheit hat.
Vermögen wir dieses aus dem ersten Anfang zur Leitfrage und aus ihrer Geschichte zu ersehen? Gewiß — sobald wir die Grundfrage ernst nehmen und sie nicht mit der Leitfrage zusammenwerfen und meinen, durch diese sei jene schon bewältigt oder auch nur gestellt. Gewiß — sobald wir die Leitfrage selbst und ihre bisherige Bewältigung herausnehmen aus den verhärteten und geläufig, d. h. fraglos gewordenen Auslegungen.
Welchen Wink gibt der Anfang und die Geschichte der Leitfrage des abendländischen Denkens für das Fragen nach der Wahrheit des Seins selbst? Die Leitfrage sucht das Sein des Seienden. Indem sie dabei das Sein zur Sprache bringt — aber im Blick auf das Seiende selbst, um dieses als solches zu begreifen -, sagt sie vom Sein, ohne doch es selbst eigens zu befragen. Aber schon indem sie das Sein nennt, gibt sie im wesentlichen Wort, darin sie es nennt, eine Auslegung des Seins. Und in der Auslegung beansprucht sie einen Bereich, in den hinaus sie das Sein rückt, aus dem her sie das Sein ins Offene und damit in die Wahrheit stellt. All dieses aber, ohne davon noch eigens zu wissen und wissen zu müssen; denn für den ersten Anfang, der überhaupt das Sein ausspricht — und es für das Seiende, zu dessen Eröffnung im Wissen und Gestalten ausspricht, geht die ganze Wucht der Fragen notwendig dahin, durch das Sein erst einmal des Seienden Herr zu werden und inmitten des Seienden Fuß zu fassen.
Aber sofern ebenso notwendig die Nennung des Seins und die Entfaltung dieses Nennens im Befragen des Seienden schon eine Auslegung des Seins ist — und zwar eine aus der Ursprünglichkeit eines Anfangs erwachsende, wird in all dem für uns ein Wink verborgen liegen, dessen weisende Kraft ans Licht gezwungen werden muß. Versuchen wir solches, dann vollziehen wir schon einen ersten Schritt in der Aufstellung der Grundfrage.
Nur im groben Hinweis auf die anfänglichen Grundworte für das Sein sei dies jetzt getan. Die Grundworte sind φύσις, ἰδέα, οὐσία, die als „Natur“, als „Idee“, als „Substanz“ in vielfacher Bedeutung das abendländische Denken tragen und bestimmen. Wird das Anfängliche Sagen vom Sein und damit das obzwar unentfaltete — aber deshalb umso unverfälschtere — wesentlich begriffen aus dem, von woher es spricht, dann zeigt sich: φύσις — das Sichentfaltende Aufgehen, worin und wodurch erst das Seiende ist, was es ist. Das Sichentfaltende Aufgehen aber ist das Hereinstehen von darin Anwesendem — Geschehnis der Anwesenheit — Anwesung. Darin liegt aber ein Zweifaches: das Sichentfalten — von sich her — das Insichständige — eines Anderen schlechthin unbedürftige; zugleich aber das Aufgehen als jenes, wovon alles seinen Bestand und Dauer hat — das Beständige selbst. Insichständige Beständigkeit ist reine Anwesenheit — Anwesung im vollen Sinne. (ebenso wesentlich: das ἕν = ὄν; „Einheit“, EQLi;, die Entfaltende Sammlung, gesammelt im Anwesen und durch dieses!) Hierin liegt der Wink auf Gegenwart und damit auf die Zeit. Wenn jetzt dieses Wort genannt wird, so muß das Genannte erst recht unberührt bleiben von jeder heute geläufigen und späteren aber auch damaligen Auslegung; nur als ein Wink in solches, was im Sagen der cpuoLi; mächtig ist. So unberührt und in seiner verschlossenen Richtung der „Zeit“ genannt lassen, daß wir uns sogar hüten müssen, es auch nur gegen den „Raum“ abzugrenzen — aus der geläufigen Zusammenstellung von Zeit und Raum.
Zu zeigen wäre jetzt, wie durch Plato — wenngleich vorbereitet durch den aufzuhellenden Bezug von εἶναι und νοεῖν bzw. λόγος (S.S. 35) — die φύσις begriffen wird als ἰδέα — das Sichentfaltende Aufgehen als Aufscheinen und Sichtbarwerden; das Sein des Gesichteten — Aussehen des Seienden εἶδος — ἰδέα; aber der Grundcharakter bleibt — der gleichwohl ja erst recht hier verhüllte Bezug zur „Zeit“; das ὄντως ὄν als das ἀεί ὄν; das ἀεί — nicht nur als das „Fortwähren“, sondern als das In sich wesende Anwesen; die Ewigkeit — das ἐξαίφνης (Dialog Parmenides).
Und schließlich birgt das künftig maßgebende Grundwort für das Sein οὐσία (als „Substanz“ und essentia) den Zeitbezug — den Anwesenheitscharakter in sich (zu allem Überfluß — οὐσία — παρουσία — als „Anwesen“ — das Verfügbare - Vermögen — in sich ständige Beständige). Aber je schärfer das Sein als οὐσία gefaßt und in den Bezug zu den „Kategorien“ gebracht wird, um so mehr verhüllt sich der Zeitbezug; dem widerspricht nicht, daß seit Plato und Aristoteles die „Zeit“ selbst ins Wissen und zum Begriff kommt; im Gegenteil — gerade weil das geschieht und vor allem wie das geschieht, trägt den Grund in sich, weshalb endgültig dieser Wink nie ein Wink werden kann und die Leitfrage ihre Grundfrage nie zu wissen bekommt; denn Zeit selbst — abgesetzt gegen „Ort“ — wird ein gewisser Weise „Seiendes“ und selbst mit den Mitteln der inzwischen sich entfalteten Auslegung des Seienden begriffen. Das anfängliche und zwar notwendige Nichterfahren der Zeit als Wahrheit des Seins wird jetzt ebenso notwendig und unwissend zu einem Abdrängen dieses Bereiches und jedes Anstoßes zum Fragen in dieser Hinsicht; vollends dann, wenn durch den Einbruch des Christentums in das abendländische Denken der Grund des Seins als „ewige Wahrheit“ im Sinne des Schöpfergottes — scheinbar endgültig gesichert wird. Die Entchristlichung dieses Bezugs in der Neuzeit, die nur scheinbar ist, der Grund des Seins als Vernunft - Bewußtsein — absoluter Geist — Leben — Wille zur Macht, verschäift noch einmal die Abdrängung und rückt die anfängliche Bedeutung der Grundworte in andere Bezüge; so erwächst schließlich die Seinsvergessenheit, deren deutlichstes Zeichen die Meinung ist, „Sein“ sei der allgemeinste — leerste und selbstverständlichste „Begriff'. Alle „Ontologie“ aber, die vom Sein selbst scheinbar handelt, fragt gar nicht nach dem Sein selbst und was sie bringt, gilt seinerseits nur als Metaphysica generalis — als Vorhof und als formales Gerüst.
Mit der wachsenden Erörterung des Seienden im neuzeitlichen Sinne wird das Sein selbst mehr und mehr entmachtet, so daß eine Frage dann nur noch als abseitige Grübelei über bloße Begriffe verstanden und verlästert werden kann.
Doch umso wesentlicher und unumgänglicher wird es, einen ersten Anfang, der trotz allem an der Macht bleibt, zum ersten Wink auf die Zeit zu vernehmen und seiner Weisung zu folgen. Daraus erwächst aber notwendig dieses: wird die Frage nach dem Sein selbst und seiner Wahrheit als Frage gestellt, und ist dieses Fragen nicht neuerungssüchtig, sondern verbunden dem Ältesten und Höchsten, dann muß es — dem Winke folgend — fragend das Sein zusammen bringen mit der Zeit: Sein und Zeit. (vgl. ob. S. 10)
Durch diesen Titel wird die Leitfrage zur Grundfrage. Das Sein selbst wird auf sein Wesen erfragt und „Zeit“ ist das Wort, in dem zufolge der Erinnerung an das Unausgesprochene im ersten Anfang jenes anklingt, worin das Sein selbst west. Inwiefern und weshalb und in wie weit „Zeit“ den Wink gibt in die Wesung des Seins, das ist die Frage, die es erst zu fragen gilt. Mit ihr fängt das Fragen der Grundfrage an.
Diese Verdeutlichung von „Sein und Zeit“ macht deutlich, daß das darin Genannte nichts zu tun hat mit einer geläufigen Lesung dieses Titels, die durch herrschende Meinungen nahe gelegt wird, denen die Grundfrage nach dem Sein und damit die klare Unterscheidung von Grundfrage und Leitfrage völlig fremd ist. „Zeit“ — das „Zeitliche“, das ist ja das Vergängliche und somit das Unbeständige und stets nur Werdende. Also sagt der Titel: hie Sein als Beständiges („statisch“), hie „Zeit“ als Unbeständiges („dynamisch“). Und wenn da betonter Weise dem Sein die Zeit beigesellt wird, so soll eben gegenüber der nur „statischen“ Auffassung der Welt zugleich auch die dynamische zu ihrem Recht kommen; zumal wo wir doch das „Leben“ als geschichtliches und stets wandelbares heute „lebendiger“ „erleben“ als frühere Zeiten. Und da sich dieses wandelhafte Leben im Menschen und als Menschenleben abspielt, wird die Betonung des Zeitlichen zugleich zu einer anthropologischen Ausrichtung der Philosophie. Und man bejaht auch diese Richtung nur mit der Anfügung einer Mahnung, daß man über der Betonung des „Dynamischen“ nicht das „Statische“ vergesse. Solche Darlegungen, mit denen man sich fast durchgängig „Sein und Zeit“ zurecht macht, sind von der in diesem Titel gefaßten Frage so entfernt wie nur möglich. Denn es handelt sich hier überhaupt nicht um eine Entgegen- und Zusammenstellung von solchem, was sich einfach ergänzt und zusammen die Charakteristik des Weltganzen ausmacht. Wenn man schon im voraus „Sein und Zeit“ so verstehen will, und darin eine Frage der Metaphysik erblickt, dann ist es geraten, sich an eine Zusammenstellung zu erinnern, die so alt ist wie das Fragen nach dem Sein: die Unterscheidung von Sein und Werden. Die so Unterschiedenen werden nach alter Übung zugleich auf die beiden Namen Parmenides und Heraklit verteilt, eine Denkweise, die noch Nietzsche zu seinem Verhängnis mitmacht. Aber ohne jetzt diese geschichtliche Frage zu verhandeln, muß entschieden werden, ob Sein und Zeit nur die andere Formel für Sein und Werden darstellt. Das ist nicht der Fall und kann nicht so liegen. Denn einmal wird „Zeit“ nicht mit dem Sein in einer Gleichstellung nur von ihm unterschieden, sondern wird als möglicher Bereich der Wesung des Seins zur Frage gestellt. Das „Und“ hat hier die Bedeutung dieses Fragezusammenhanges und nennt in diesem Titel gerade das Fragwürdigste. Zum anderen aber nennt „Sein“ gerade nicht nur des „Beständige“ (Statische), sondern Sein ist so weit gefaßt, daß auch alles Werden in das Sein rückt, sofern eben Werden nicht Nichts ist.
Der Name „Sein“ umgreift alles, was nicht schlechthin nichts ist; ja im Grunde nennt Sein auch noch das Nichts, sofern dieses nur in jenem west. Damit ist ein Fingerzeig gegeben für die Auslegung und Bewältigung jener anderen Entgegensetzungen, in die das Sein im Verlauf der Geschichte des ersten Anfangs und schon sehr früh gebracht wird. „Sein und Schein“ — ersetzt nicht einfach das Werden durch den Schein, wenngleich ein wesentlicher Bezug zwischen beiden erfahren wird, sondern das „und“ ist in dieser Zusammenstellung wieder ein anderes als in der von Sein und Werden. Das Entsprechende gilt von jener Entgegensetzung, die als „Sein und Denken“ bekannt ist — und später in die Formel von „Objekt und Subjekt“ abgewandelt wurde. Und schließlich ist die Zusammenstellung von „Sein und Sollen“ wieder anders, nicht nur in dem, was dem Sein entgegen gesetzt wird, sondern vor allem in dem, wie dem Sein ein anderes vorgehalten wird. Aber „Sein und Zeit“ läßt sich nun gerade nicht diesen Unterscheidungen als eine weitere anreihen, weil hier all das, was in den genannten Titeln dem Sein entgegen gesetzt und so außerhalb desselben steht, in das Sein hineingenommen wird. Sein wird so weit und ursprünglich gesetzt, daß auch das Werden, der Schein, das Denken, das Sollen — nicht Nichts, sondern seiend sind. Nur wenn „Sein“ in dieser Weite und Tiefe begriffen wird und fragend in den Hinblick auf „Zeit“ gestellt wird, ist die nächste Vorbedingung erfüllt, um zu wissen, was in der „Seinsfrage“ als der Grundfrage gefragt wird. Wird aber das „Sein“ in solcher Weite nach seinem Wesen befragt, dann erscheint es als das Allgemeinste, was überhaupt sagbar und jederzeit zu sagen ist. Das Allgemeinste wird zum Gemeinsten, das Jeglichem zukommt. Von diesem Üblichsten und Leersten und allerwärts Vorfindlichen läßt sich weiter nichts anderes mehr sagen als das Eben Gesagte. So spricht der Blick auf das Sein, der aus dem Gewöhnlichen Umtrieb im Seienden und dem Bemerken desselben herkommt.
Wird aber das „Sein“ in solcher Weite genommen, dann zeigt sich nichts mehr von gleicher Art; sein Anderes ist nur noch das Nichts; und selbst dieses west noch nach der Art des Seins. So kündigt sich das Sein an als das Seltenste und Vollste und nirgends Vorfindliche (wie ein Seiendes). Das Sein erscheint als das Einzigartigste. Seine Weite ist jetzt nicht Zeichen seiner Vergemeinerung, sondern der Einzigkeit seiner Tiefe.
Wie kann aber dann dem „Sein“ noch Zeit entgegengestellt werden? Wie kann solches gewagt werden, wenn die Einzigartigkeit des Seins ins Wissen kommt? Oder muß trotzdem auf die „Zeit“ zu das Denken gehen? Welche Notwendigkeit waltet hier und für wen? Wie immer dem sei, das mit „Zeit“ uns Zugewunkene muß entsprechend „einzigartig“ sein. Die gewöhnlichen Vorstellungen von der Zeit, sowohl die der Zeitrechnung als die Zeit des „Erlebens“, werden das Erfragte nicht treffen, weil sie je selbst die Zeit als Seiendes und Werdendes fassen. Ja, was Zeit genannt ist und als notwendiger Wink aus dem ersten Anfang uns entgegenkommt, wird über sich hinauswinkend ein Reicheres meinen, dahin uns Zeit freilich ein wesentlicher Weg ist.
Bedenken wir die Lage, in die uns die Grundfrage, angezeigt durch den Titel „Sein und Zeit“, bringt, dann entspringt als nächste Forderung, „Zeit“ in dem ursprünglicheren Sinne näher zu bringen. Aber dieses läßt sich dem Gehalt der Grundfrage entsprechend nur in der Bezugnahme auf das Sein selbst bewerkstelligen. Und wie soll hierbei das Sein gefaßt werden? Das Nächste — aber gar nicht das Letzte — was vom Sein in jener Weite sagbar wird, ist die „Tatsache“, daß wir — selbst Seiende inmitten des Seienden — das Sein verstehen; dieses Verstehen glaubt zu wissen, was „Sein“ heißt — was mit dem „ist“, dem geläufigsten Wort, genannt wird.
Bei uns — den Menschen — kommt das Sein ins Spiel. Ob wir das Sein schaffen oder ob das Sein uns schafft, oder ob beides geschieht oder keines von beidem, sondern ein ganz Anderes — das ist mit der „Tatsache“, daß der Mensch i~ Spiel des Seins steht, nicht entschieden, sondern gerade gefragt und zur Frage vorbereitet. Und wenn das Sein sein Wesen hat in dem, was als Name „Zeit“ uns zuwinkt, dann müssen wir selbst — im Spiel des Seins stehend — der Zeit gehören. Wir selbst kommen so bei der Frage nach Sein und Zeit ins Spiel nicht nur als die Frager, sondern als die Befragten.
Wer wir selbst sind, das wissen wir nicht, aber wir haben einen Wink aus der Frage selbst, wie — in welcher Hinsicht wir uns zu begreifen haben, wenn wir uns wissen als einen Einsatz in das Spiel des Seins im Wesen der Zeit. Indem wir solcher Art wir selbst sind, weist unser Menschsein in ein ursprünglicheres Sein zurück, das aus einer herkömmlichen Wesensbestimmung des Menschen als animal rationale und die Abwandlungen.dieser Bestimmung nicht getroffen wird und grundsätzlich nicht getroffen werden kann; diese Auslegung des Menschen ist zwar nicht ohne den Blick auf das Sein und den Bezug des Menschen zum Sein vollzogen; das aber ist nur wieder ein Wink, daß das Sein selbst einen ausgezeichneten Bezug zum Menschen hat; diesen gilt es zu wissen; demzufolge muß versucht werden, das Menschsein im Vorhinein und ursprünglich aus dem Bezug zum Sein und aus dem Wesen des Seins selbst zu begreifen. Der Ansatz zu diesem Fragen nach dem Menschen — im Dienste der Seinsfrage und aus dem Wesen des Seins — wird dadurch angezeigt, daß das Menschsein aus dem „Da-sein“ begriffen wird. Das Da-sein — ursprünglicher und früher als das Menschsein nach dem gewohnten Begriff — ist die Stätte des Spiels des Seins und der Ursprung seiner Wesung. Der Mensch als der Einsatz in diesem Spiel ist jenes Seiende, das sich jeweils unwissend oder wissend für oder gegen das Da-sein entschieden hat und aus dieser Entscheidung seine Geschichte baut.
„Sein und Zeit“ als die veröffentlichte Abhandlung genommen ist ein erster Versuch, aus der Grundfrage nach dem Sein das Dasein von der Zeitlichkeit her ins Wissen und so in die Möglichkeit einer Erfahrung zu bringen.
Auch die übrigen Schriften dienen nur dieser Aufgabe, in der Ausrichtung auf die Grundfrage das Da-sein zu eröffnen. Jede andere Abschätzung des Mitgeteilten an anderen Maßstäben und Aufgaben und geläufigen „Problemen“ läßt sich zwar nicht verhindern und verbieten, aber sie muß wissen, daß sie fehlgreift, auch wenn sie noch soviel Bedenken vorzubringen hat. Die Auslegung des Todes z.B. ist nicht beansprucht als die volle metaphysische Wahrheit über den Tod, sondern umgekehrt, der Tod wird nur in einer bestimmten Erfahrungsrichtung begriffen, um die Zeitlichkeit des Daseins sichtbar zu machen. Das Gleiche gilt von der „Geschichtlichkeit“ des Daseins.
Darüber freilich kann, ja muß ein Streit sein, ob der gewählte Weg zur ersten Eröffnung des Da-seins der rechte war und welche anderen möglich und notwendiger sind. Aber diese Auseinandersetzung ist nur möglich, wenn zugleich und zuvor der ganze Fragebereich der Grundfrage ursprünglicher entfaltet wird. (Statt dessen hat man sich um dieses Dringlichste entweder überhaupt nicht gekümmert oder es mit einigen Redensarten unverstanden weggeschoben.)
Die Frage nach dem Sein und d. h. ihre volle Entfaltung kann zwar übergangen, verfälscht oder gar vergessen, aber sie kann nicht beseitigt werden. Sie besteht freilich auch nicht „an sich“ und zeitlos, sondern ist als geschichtliche — in dem Sinne, daß sie die Geschichte des abendländischen Daseins mit gründet. Je nach dem Willen zu dieser Geschichte und je nach der Kraft, diese Geschichte zu tragen, wird die erste und letzte Frage der Philosophie wach bleiben und die Gestaltung aller Dinge befeuern und durchleuchten.2
1 Vgl. die drei Hauptfragen.
2 Vgl. das Vorwort zu der französischen Übersetzung 1937.