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Vigiliae II

(Glauben, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Gesellschaftsordnung, Dichtung) nur noch Gebiete sind, nämlich des menschlichen Leistens; daß hier kein Auftrag, keine Weihe, kein Anruf mehr waltet und nirgends das Fügende bleibt.

Darum sucht man auch allzu eilig der Verwirrung, soweit man sie sieht, zu steuern auf den Bahnendes Leistens — d.h. durch Verständigung und deren Organisation.

Durch die Verständigung einigt man sich auf ein Gemeinsames unter Hintansetzung der Gegensätze. In der Verständigung findet man sich auf einer Ebene wechselseitiger Duldung im Ausgleich (vgl.u.78f.). Man bezahlt mit der Preisgabe, einer vorgetäuschten, des Eigenen und Eigentlichen. Verständigung ist die Einebnung der entschiedenen Gegnerschaften auf dem verabredeten Anschein des Nichtbestehens von Gegensätzen. Die Verständigung sichert so unauffällig den Fortbestand der Verwirrung. Verständigung schiebt die Aus-einandersetzung weg und erreicht doch überall den Anschein des tätigen Wollens, das nur Einigung und Einigkeit will.

So erscheint dann zunächst die Schonung im Vergleich mit der | Verständigung erst recht als das tatenlose, willensschwache [68] Nachgeben. Schonung sieht aus wie das Ausweichen vor dem Aufflammen der Gegensätze. Indes ist Schonung, wesentlich erfahren, alles andere denn bloße Nachgiebigkeit.

Zur Schonung gehören:

1. das Sich aus-einander-Setzen in das je Eigene;

2. das Ent-gegnen, das die Zwiesprache sucht, aber das Gegensätzliche nicht aufhebt — vielmehr

5. das Anerkennendes Anderen in seinem Eigenen bereitet;

4. und sodas Wesen desje Eigeneninsein Eigentliches hütet.

5. In der Schonung entwirrt sich die Verwirrung.

Schonung ist die Bereitschaft des entgegnend auseinander-setzenden Anerkennens der Hut des Eigenen; dessen Eigentum ruht im Ereignis: die Schonung wirkt, wenn ihr je ein »Wirken« eignet, im Unscheinbaren, langsam vorbereitend, jäh — den Wandel. — Schonung er-bringt die Verwandlung der Verwirrung.


Martin Heidegger (GA 100) Vigiliae und Notturno

GA 100