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Das Ende der Philosophie und die Alf gäbe des Denkens

als solche geben kann.(27) Es gibt sie nur, wenn Lichtung waltet. Diese ist mit der Ἀλήθεια, der Unverborgenheit, zwar genannt, aber nicht als solche gedacht.

Der natürliche Begriff von Wahrheit meint nicht Unverborgenheit, auch nicht in der Philosophie der Griechen. Man weist öfter und mit Recht darauf hin, daß schon bei Homer das Wort άληθές immer nur von den verba dicendi, vom Aussagen und deshalb im Sinne der Richtigkeit und Verläßlichkeit gebraucht werde, nicht im Sinne von Unverborgenheit. Allein dieser Hinweis bedeutet zunächst nur, daß weder die Dichter noch der alltägliche Sprachgebrauch, daß nicht einmal die Philosophie sich vor die Aufgabe gestellt sehen zu fragen, inwiefern die Wahrheit, d. h. die Richtigkeit der Aussage nur im Element der Lichtung von Anwesenheit gewährt bleibt.

Im Gesichtskreis dieser Frage muß anerkannt werden, daß die Ἀλήθεια, die Unverborgenheit im Sinne der Lichtung von Anwesenheit sogleich und nur als όρθότης, als die Richtigkeit des Vorstellens und Aussagens erfahren wurde. Dann ist aber auch die Behauptung von einem Wesenswandel der Wahrheit, d. h. von der Unverborgenheit zur Richtigkeit, nicht haltbar. Statt dessen ist zu sagen: Die Ἀλήθεια, als Lichtung von Anwesenheit und Gegenwärtigung im Denken und Sagen, gelangt sogleich in den Hinblick auf όμοίωσις und adaequatio, d. h. in den Hinblick auf Angleichung im Sinne der Übereinstimmung von Vorstellen und Anwesendem. Allein dieser Vorgang fordert gerade die Frage heraus: Woran liegt es, daß für das natürliche Erfahren und Sagen des Menschen die Ἀλήθεια, die Unverborgenheit, nur als Richtigkeit und Verläßlichkeit erscheint? Liegt es daran, daß der ekstatische Aufenthalt des Menschen in der Offenheit des Anwesens nur dem Anwesenden und der vorhandenen Gegenwärtigung des Anwesenden zugekehrt ist? Was bedeutet aber dies anderes, als daß die Anwesenheit als solche und mit ihr erst recht die sie gewährende Lich-


(27) inwiefern es die ontologische Differenz gibt und geben kann. »Seinsfrage« in Sein und Zeit der verkürzte Titel für die Frage nach der Herkunft der ontologischen Differenz


Martin Heidegger (GA 14) Zur Sache des Denkens