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Heraklit X.

178 vom Tode Unbetroffenen, die Sterblichen die Todgeweihten. Heraklit aber verwandelt diese übliche Auffassung der griechischen Mythologie, die die Sterblichen und die Götter jeweils für sich sein und sie nur gelegentlich sich zueinander kehren läßt. Dieses gelegentliche Verhältnis macht er zu einem Götter und Menschen in ihrem Selbstsein konstituierenden Verhältnis. Das Unsterblichsein der Götter ist nur möglich, wenn sie sich zum Sterblichsein der Menschen verhalten. Das Wissen um das Todgeweihtsein der Menschen konstituiert das Verstehen des eigenen unvergänglichen Seins, und umgekehrt, das Wissen um das Immersein der Götter konstituiert das Verstehen des eigenen Sterblichseins. Götter und Menschen bilden nicht zwei getrennte Sphären. Es kommt darauf an, nicht den Chorismos, sondern die Verschränkung des göttlichen und menschlichen Selbstund Seinsverständnisses zu sehen.


HEIDEGGER: Es geht darum, nicht in einer massiven Weise von den Göttern und Menschen als von verschiedenen Lebewesen zu sprechen, von denen die einen unsterblich, die anderen sterblich sind. In der Terminologie von „Sein und Zeit“ gesprochen ist die Unsterblichkeit keine Kategorie, sondern ein Existenzial, eine Weise, wie sich die Götter zu ihrem Sein verhalten.


FINK: Das göttliche Wissen um die Todgeweihtheit der Menschen ist kein bloßes Bewußtsein, sondern ein verstehendes Verhältnis. Bei Athene, die als Mentor den Sterblichen erscheint, um ihnen Hilfe zu leisten, handelt es sich vielleicht noch um eine andere Thematik. Die Epiphanie der Götter ist kein wirkliches Sterblichsein der Götter, sondern eine Maskierung. Wenn Aristoteles sagt, daß das Leben in der θεωρία, das noch über die φρόνησις hinausgeht, eine Art von göttlichem Leben, ein ἀθανατίζειν sei (wobei ἀθανατίζειν wie ἑλληνίζειν gebildet ist), so besagt das, daß wir uns in der θεωρία wie Unsterbliche verhalten. In ihr reichen die Sterblichen hinauf ins Leben der Götter. Entsprechend müßten wir von den Göttern sagen, daß ihr Sichverhalten zu den Menschen ein „θανατίζειν“ ist, vorausgesetzt,


Martin Heidegger (GA 15) Seminare