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Die Genesis der σοφία im natürlichen Dasein

Die Vollzugsart der σοφία ist das θεωρεῖν, eine solche Seinsweise des menschlichen Daseins, die in sich schließt eine sog. διαγωγή: Verweilen, Muße, Nichtstun. Die διαγωγή als Nichtstun besagt: nichts handeln, nichts verrichten; jede ποίησις fällt aus. Sofern das θεωρεῖν durch die διαγωγή bestimmt ist, ist es keine ποίησις, sondern ein bloßes Betrachten, ein Verweilen beim Gegenstand selbst. In dieser Charakteristik des θεωρεῖν und damit der Seinsart der σοφία kommt zum schärferen Ausdruck, was Plato öfter gesagt hat, z. B. »Sophistes« 254a8 sq: ὁ δέ γε φιλόσοφος, τῇ τοῦ ὄντος ἀεὶ διὰ λογισμῶν προσκείμενος ἰδέα. Der Philosoph liegt bei, hält sich immer auf im Hinsehen auf das Seiende, und zwar so, daß er in diesem Hinsehen auf das Seiende darüber spricht, darüber ein Begreifen durchläuft. Hier bei Plato ist also, nur nicht ontologisch-theoretisch fundiert, dieselbe wissenschaftliche Haltung lebendig, wie sie dann Aristoteles expliziert.

Wenn es darum geht, die σοφία gegen die φρόνησις abzugrenzen, muß die γένεσις des Verhaltens der σοφία aufgeklärt werden. Aus dieser Betrachtung der γένεσις der σοφία gewinnen wir zugleich den Horizont für das Verständnis dessen, daß die σοφία gleichzeitig ἀρετή für die τέχνη und die ἐπιστήμη ist. Es muß sich also zeigen, warum die τέχνη, die doch eigentlich auf eine ποίησις abzielt, auf Grund ihrer eigensten Struktur eine Vorstufe zur σοφία darstellt. Aristoteles bemerkt ausdrücklich: οὐθὲν ἄλλο σημαίνοντες τὴν σοφίαν ἢ ὅτι ἀρετὴ τέχνης ἐστίν (Eth. Nic. VI,7; 1141a11 aq). »Das eigentliche Verstehen, σοφία, ist die Vollendung, ἀρετή, τελείωσις, des Sich-Auskennens bei einer Bewerkstelligung«. Zugleich sagt Aristoteles: ὥστε δῆλον ὅτι ἀκριβεστάτη ἂν τῶν ἐπιστημῶν εἴη ἡ σοφία (a16). »Die σοφία ist die strengste der Wissenschaften«. ἀ-κριβής ist dieselbe Bildung wie ἀ-ληθής, α-privativum und κρυπτόν: un-verborgen, womit Aristoteles einen Charakter des Erkennens als des Aufdeckens meint. Weil die σοφία die strengste Wissenschaft ist, d.h. diejenige, die das Seiende am eigentlichsten aufdeckt, kann Aristoteles sagen: δεῖ ἄρα τὸν σοφὸν μὴ μόνον τὰ ἐκ τῶν


Martin Heidegger (GA 19) Platon Sophistes