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§ 11. Phänomenologische Klärung

es ist dasselbe νοεῖν, Wahrnehmen, schlichtes Vernehmen, Anschauen, und Sein, Wirklichkeit. In diesem Satz des Parmenides ist wörtlich die These Kants vorweggenommen, wenn er sagt: Wirklichkeit ist Wahrnehmung.

Wir sehen jetzt deutlicher, daß die Interpretation der essentia und auch gerade die des Grundbegriffes für die essentia, οὐσία, auf das herstellende Verhalten zum Seienden zurückweist, während als eigentlicher Zugang zum Seienden in seinem Ansichsein das reine Betrachten fixiert ist. Wir bemerken beiläufig, daß diese Interpretation der ontologischen Grundbegriffe der antiken Philosophie längst nicht alles erschöpft, was hier gesagt werden müßte. Vor allem ist hierbei noch der griechische Weltbegriff gänzlich außer Acht gelassen, der nur aus einer Interpretation der griechischen Existenz dargelegt werden könnte.

Für uns ergibt sich die Aufgabe zu zeigen, daß essentia und existentia einen gemeinsamen Ursprung im interpretierenden Rückgang auf das herstellende Verhalten haben. Wir erfahren in der antiken Ontologie selbst über diesen Rückgang ausdrücklich nichts. Die antike Ontologie vollzieht die Interpretation des Seienden und die Ausarbeitung der genannten Begriffe gleichsam naiv. Wir erfahren nichts darüber, wie der Zusammenhang und Unterschied beider zu fassen und als für jedes Seiende notwendig geltender zu begründen sei. Aber möchte man sagen — ist das ein Mangel und nicht eher ein Vorzug? Ist nicht die naive Forschung an Sicherheit und Erheblichkeit ihrer Ergebnisse aller reflektierten und allzu bewußten überlegen? Das kann man bejahen und muß doch zugleich zu verstehen geben, daß auch die naive Ontologie, wenn sie überhaupt Ontologie ist, schon immer, weil notwendig, reflektiert sein muß, reflektiert in dem echten Sinne, daß sie mit Rücksicht auf das Dasein (ψυχή, νοϋς, λόγος) das Seiende hinsichtlich seines Seins zu erfassen sucht. Die Bezugnahme auf die Verhaltungen des Daseins bei der ontologischen Interpretation kann sich so vollziehen, daß das, worauf Bezug genommen


Martin Heidegger (GA 24) Die Grundprobleme der Phänomenologie