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Der Anfang des abendländischen Denkens

c) Der Wortcharakter des tragenden Wortes τὸ δῦνόν und dessen Erläuterung an der Leitfrage des metaphysischen Denkens (Aristoteles)


Sobald wir den Spruch vernehmen, möchten wir auch schon wissen, was denn das sei, τὸ μὴ δῦνόν ποτε »das niemals Untergehende«. Wir fragen also dabei nach dem, was niemals dem Untergehen anheimfällt. Wir unterscheiden somit etwas, das untergeht bzw. nicht untergeht, von dem Untergehen selbst. Dies können wir den Vorgang oder das Vorkommnis nennen, von dem etwas, nämlich das Untergehende, betroffen wird.

Wir wollen nun bei unserer Frage nicht so sehr etwas über das Vorkommnis des Untergehens erfahren, sondern wir wollen wissen, was dasjenige ist, was als das niemals Untergehende dem Vorkommnis des Untergangs entzogen bleibt, da ja doch im Spruch die Rede ist von τὸ μὴ δῦνόν ποτε. Indem wir so fragen, dringen wir in den Gehalt des Spruches ein. Jedenfalls sieht es so aus.

In Wahrheit denken wir mit dieser anscheinend eindringlichen Frage nach dem, was das Untergehende sei, am Spruch des Denkers vorbei, weil wir nicht wesentlich, sondern nur ›gewöhnlich‹ denken. Inwiefern? Wo ist denn hier, in bezug auf die Rede über τὸ δῦνόν - das Untergehende bzw. niemals Untergehende, auch nur die Möglichkeit eines Vorbeidenkens? τὸ δῦνόν heißt eindeutig das Untergehende. So sagen wir, die wir jetzt gewöhnlich denken, indem wir unser geläufiges Vorstellen unmittelbar auf das loslassen, was untergeht. Wir meinen das, was dem Vorgang des Untergehens unterworfen ist. Aber τὸ δῦνόν bedeutet nicht nur das Untergehende in dem erläuterten Sinne. Das Wort τὸ δῦνόν ist keineswegs eindeutig. Ja sein Wortcharakter besteht sogar darin, zweideutig zu sein. Das Wort hat, grammatisch ausgedrückt, den Charakter eines Participiums. Das ist die römische übersetzung eines Titels, den die griechischen Grammatiker durch ἡ μετοχή bezeichneten, d. h. ›die Teilhabe‹. Das Wort δῦνόν ist durch eine Teilhaberschaft


Martin Heidegger (GA 55) Heraklit