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Zusatz

und sogleich den rätselhaften Bezug zu fassen, in dem der Λόγος zum Menschen und der Mensch zum Λόγος steht. Inwiefern kann nämlich Heraklit sagen, die Menschen brächten den Λόγος nicht zusammen, weder bevor sie ihn eigens vernommen haben? Ist da vor dem Vernehmen und Vernommenhaben überhaupt ein Zusammenbringen möglich und zuzumuten? So etwas anzunehmen, ist doch sinnlos. Allerdings, solange man verkennt, daß der Λόγος für den Menschen schon anwest und sich dem Menschen ständig zum Lesen gibt, bevor der Mensch den Λόγος eigens angehört hat. Der Λόγος ist jedoch nach dem erläuterten Fragment 72 dasjenige, womit die Menschen am meisten, es ständig austragend, im Gespräch sind, dasjenige, worauf sie tagtäglich stoßen -aber ohne es zu fassen und darauf sich einzulassen. Aber sogar auch dann, wenn der Λόγος dem Menschen eigens zu Gehör gebracht ist, besteht noch nicht die geringste Gewähr, daß sie dem Λόγος entsprechen, d. h. ihn zusammenbringen in seiner ihm eigenen Sammlung. Auch wenn die Menschen mit den Ohren hören, ist noch nicht verbürgt, daß sie auf das Gehörte hören und horchsam sich darauf sammeln.

Heraklit will hier keineswegs verkünden, daß die Menschen für sein Denken zu dumm seien; er will auch nicht sagen, daß die Torheit der Menschen sie von dem Λόγος, dem ἕν πάντα εἶναι, ausschließe. Er will eher sagen, daß die Menschen durch ihre Klugheit, durch den Eigensinn und durch das eilige selbstische Besserwissen und durch die Versteifung auf sich selbst sich vom Λόγος abkehren. Mit Übergehung der sonst wichtigen übrigen Sätze des ersten Fragmentes schließen wir hier das zweite an, das lautet:


διὸ δεῖ ἕπεσθαι τῷ ξυνῷ. τοῦ λόγου δ΄ ἐόντος ξυνοῦ ζώουσιν οἱ πολλοὶ ὡς ἰδίαν ἔχοντες φρόνησιν.


Martin Heidegger (GA 55) Heraklit