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Phänomenologische Interpretationen zu Aristoteles

und darauf bezogen. Ἀληθεύειν besagt nicht: »sich der Wahrheit bemächtigen«4, sondern das je vermeinte und als solches vermeinte Seiende als unverhülltes in Verwahrung nehmen.5,6

Die αἴσθησις, das Vernehmen im Wie des Sinnlichen, wird nicht erst in Übertragung des ›Wahrheitsbegriffes‹ vom λόγος her ›auch‹ wahr genannt, sondern sie ist ihrem eigentlichen intentionalen Charakter nach das, was in sich selbst ursprünglich sein intentionales Worauf ›originär‹ gibt. Das ›ein Gegenständliches als ein unverhülltes Geben‹ ist ihr Sinn. Daher ή μὲν γὰρ αἴσθησις τῶν ἰδίων ἀεί ἀληθής (De anima Γ 3, 427 b 11 sq.; vgl. cap. 3).7 Es zeigt sich hier, daß der Ausdruck ›Wahrheit‹ — ›wahr‹ angesichts der vermeinten phänomenalen Sachlage nichtssagend wird. »Falschheit« (ψεῦδος, ψευδής) dagegen gibt es nur, wo »Synthesis« ist: τὸ γὰρ ψεῦδος ἐν συνθέσει ἀεί (De an. r 6, 430 b 1 sq.). Sie setzt als Bedingung ihrer Möglichkeit eine andere intentionale Struktur des Gegenstandsmeinens voraus, ein Zugehen auf das Seiende in der ›Hinsicht‹ eines anderen Vermeintseins. Da, wo Seiendes nicht schlicht an ihm selbst intendiert ist, sondern als das und das, in einem ›Als‹-Charakter, ist das Vernehmen im Wie des Zusammen- und Mitnehmens. Sofern das Vernehmen


4 [Handschriftlicher Zusatz:] oder »Wahrheit bekennen« ([Julius] Walter [Die Lehre von der praktischen Vernunft in der griechischen Philosophie. Jena: Mauke 1874], S. 82).

5 [Fragezeichen (über »nehmen«) und handschriftlicher Zusatz auf dem unteren Blattrand mit Zuordnungszeichen:] Und zwar hat ἀληθεύειν sowenig wie der νοῦς ursprünglich (?) und eigentlich (?) ›theoretischen‹ Charakter — im Gegenteil (?); vgl. Blatt διάνοια πρατική, 1139 a 26 sq. [im vorliegenden Band: Anhang III B, Beilage Nr. 7, S. 407 f.]

Doch! nur ist' das θεωρεῖν bzw. ›nicht theoretisch‹ verschieden vom modernen ›theoretisch‹; es liegt nicht am>Theoretischen< (modernen) des νοῦς, sondern am νοῦς-haften des Theoretischen.

Ἀληθεύειν hat ursprünglichen Sinnbezug (Seinsbezug) zu κίνησις, Umgang, und deshalb θεωρεῖν das höchste Sein als Sein des faktischen Lebens — Bewegtheit; φρόνησις.

6 [Stenographischer Zusatz am Absatzende, zwei Worte unleserlich (s. Auslassungspunkte):] Das jew[eilig] Begegnende (um weltlich) [...] vor sich haben (sorgend).

5 [Handschriftlicher Zusatz auf dem linken Blattrand:] Seinscharakter.


Martin Heidegger (GA 62) Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik