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Ethica Nicomachea VI

Aber nicht nur das Seiende und sein Seinscharakter, das die φρόνησις in Verwahrung bringt, wird durch die Interpretation herausgehoben, sie gewinnt zugleich ein erstes Verständnis des Seinscharakters, den die φρόνησις an ihr selbst hat. Sie ist ἕξις, ein Wie des Verfügens über Seinsverwahrung. Als ἕξις ist sie aber ein γιγνόμενον τῆς ψυχῆς, was sich im Leben selbst als dessen eigene Möglichkeit zeitigt und dieses in einen bestimmten Stand — in gewisser Weise zu-Stande-bringt. So zeigt sich an der φρόνησις gerade eine Doppelung der Hinsicht an, in die der Mensch und das Sein des Lebens gestellt sind, die für das geistesgeschichtliche Schicksal der kategorialen Explikation des Seinssinnes der Faktizität entscheidend wird. In der Umsicht ist das Leben da im konkreten Wie eines Womit des Umgangs. Das Sein dieses Womit ist aber — und das ist schon entscheidend — nicht positiv hieraus ontologisch charakterisiert, sondern nur formal als solches, ›das auch anders sein kann‹, ›nicht notwendig und immer ist‹, wie es ist. Diese ontologische Charakteristik ist vollzogen im negierenden Gegenhalt gegen anderes und eigentliches Sein. Dieses ist seinerseits dem Grundcharakter nach nicht aus dem Sein des menschlichen Lebens als solchen explikativ gewonnen, sondern es entspringt in seiner kategorialen Struktur aus einer bestimmt vollzogenen, ontologischen Radikalisierung der Idee des Bewegtseienden24. Für dieses selbst und die möglichen Abhebungen seiner Sinnstruktur ist als exemplarisch die Bewegung des Herstellens in die Vorhabe gebracht. Sein ist Fertigsein, das Sein, in dem die Bewegung zu ihrem Ende gekommen ist, Das Sein des Lebens ist gesehen als an ihm selbst ablaufende Bewegtheit, und zwar ist es in dieser dann, wenn das menschliche Leben hinsichtlich seiner eigensten Bewegungsmöglichkeit, der des reinen Vernehmens, zu seinem Ende gekommen ist. Diese Bewegtheit ist in der σοφία als ἕξις. Das reine Verstehen bringt nicht etwa nach seinem intentionalen Charakter das menschliche Leben im Wie seines faktischen Seins in Verwahrung, die σοφία hat es überhaupt nicht zu ihrem


24 [Handschriftlicher Zusatz:] und zwar des φύσει ὄν — immer von selbst sich herstellenden.


Martin Heidegger (GA 62) Phänomenologische Interpretationen ausgewählter Abhandlungen des Aristoteles zu Ontologie und Logik