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ein anderes Seiendes. Daß Dilthey erkenntnistheoretisch widerlegt wurde, kann nicht davon abhalten, das Positive seiner Analysen, was bei diesen Widerlegungen gerade unverstanden blieb, fruchtbar zu machen.

So hat denn neuerdings Scheler die Realitätsinterpretation Diltheys aufgenommen1. Er vertritt eine »voluntative Daseinstheorie«. Dasein wird hierbei im Kantischen Sinne als Vorhandensein verstanden. Das »Sein der Gegenstände ist nur in der Trieb- und Willensbezogenheit unmittelbar gegeben«. Scheler betont nicht nur wie Dilthey, daß Realität nie primär im Denken und Erfassen gegeben wird, er weist vor allem auch darauf hin, daß Erkennen selbst wiederum nicht Urteilen und daß das Wissen ein »Seinsverhältnis« ist.

Grundsätzlich gilt auch von dieser Theorie, was schon über die ontologische Unbestimmtheit der Fundamente bei Dilthey gesagt werden mußte. Die ontologische Fundamentalanalyse des »Lebens« kann auch nicht nachträglich als Unterbau eingeschoben werden. Sie trägt und bedingt die Analyse der Realität, die volle Explikation der Widerständigkeit und ihrer phänomenalen Voraussetzungen. Widerstand begegnet in einem Nicht-durchkommen, als Behinderung eines Durch-kommen-wollens. Mit diesem aber ist schon etwas erschlossen, worauf Trieb und Wille aus sind. Die ontische Unbestimmtheit dieses Woraufhin darf aber ontologisch nicht übersehen oder gar als Nichts gefaßt werden. Das Aussein auf..., das auf Widerstand stößt und einzig »stoßen« kann, ist selbst schon bei einer Bewandtnisganzheit. Deren Entdecktheit aber gründet in der Erschlossenheit des Verweisungsganzen der Bedeutsamkeit. Widerstandserfahrung, das heißt strebensmäßiges Entdecken von Widerständigem, ist ontologisch nur möglich auf dem Grunde der Erschlossenheit von Welt. Widerständigkeit charakterisiert das Sein des innerweltlich Seienden. Widerstandserfahrungen bestimmen faktisch nur die Weite und Richtung des Entdeckens des innerweltlich begegnenden Seienden. Ihre Summierung leitet nicht erst die Erschließung von Welt ein, sondern setzt sie voraus. Das »Wider« und »Gegen« sind in ihrer ontologischen Möglichkeit durch das erschlossene In-der-Welt-sein getragen.


1 Vgl. Die Formen des Wissens und die Bildung. Vortrag 1925. Anm. 24 und 25. Anmerkung bei der Korrektur: Scheler hat jetzt in der soeben erschienenen Sammlung von Abhandlungen »Die Wissensformen und die Gesellschaft« 1926, seine längst angekündigte Untersuchung über »Erkenntnis und Arbeit« (S. 233 ff.) veröffentlicht. Abschnitt VI dieser Abhandlung (S. 455) bringt eine ausführlichere Darlegung der »voluntativen Daseinstheorie« im Zusammenhang mit einer Würdigung und Kritik Diltheys.


Martin Heidegger - Sein und Zeit