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Doppelaufgabe in der Ausarbeitung der Seinsfrage

vorwagte: »Dieser Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer bloßen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abraten, und sie un verdeckt vor Augen legen werden.« Wovor Kant hier gleichsam zurückweicht, das muß thematisch und grundsätzlich ans Licht gebracht werden, wenn anders der Ausdruck »Sein« einen ausweisbaren Sinn haben soll. Am Ende sind gerade die Phänomene, die in der folgenden Analyse unter dem Titel »Temporalität« herausgestellt werden, die geheimsten Urteile der »gemeinen Vernunft«, als deren Analytik Kant das »Geschäft der Philosophen« bestimmt.

Im Verfolg der Aufgabe der Destruktion am Leitfaden der Problematik der Temporalität versucht die folgende Abhandlung das Schematismuskapitel und von da aus die Kantische [24] Lehre von der Zeit zu interpretieren. Zugleich wird gezeigt, warum Kant die Einsicht in die Problematik der Temporalität versagt bleiben mußte. Ein zweifaches hat diese Einsicht verhindert: einmal das Versäumnis der Seinsfrage überhaupt und im Zusammenhang damit das Fehlen einer thematischen Ontologie des Daseins, Kantisch gesprochen, einer vorgängigen ontologischen Analytik der Subjektivität des Subjekts. Statt dessen übernimmt Kant bei allen wesentlichen Fortbildungen dogmatisch die Position Descartes'. Sodann aber bleibt seine Analyse der Zeit trotz der Rücknahme dieses Phänomens in das Subjekt am überlieferten vulgären Zeitverständnis orientiert, was Kant letztlich verhindert, das Phänomen einer »transzendentalen Zeitbestimmung« in seiner eigenen Struktur und Funktion herauszuarbeiten. Zufolge dieser doppelten Nachwirkung der Tradition bleibt der entscheidende Zusammenhang zwischen der Zeit und dem »Ich denke« in völliges Dunkel gehüllt, er wird nicht einmal zum Problem.

Durch die Übernahme der ontologischen Position Descartes' macht Kant ein wesentliches Versäumnis mit: das einer Ontologie


1 Kritik der reinen Vernunft1, S. 180 f.


Martin Heidegger (GA 2) Sein und Zeit

GA 2