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§ 6. Aufgabe einer Destruktion der Geschichte der Ontologie

seiner puren Vorhandenheit, das schon Parmenides zum Leitband [26] der Auslegung des Seins genommen — hat die temporale Struktur des reinen »Gegenwärtigens« von etwas. Das Seiende, das sich in ihm für es zeigt und das als das eigentliche Seiende verstanden wird, erhält demnach seine Auslegung in Rücksicht auf — Gegen-wart, d. h. es ist als Anwesenheit (οὐσία) begriffen.

Diese griechische Seinsauslegung vollzieht sich jedoch ohne jedes ausdrückliche Wissen um den dabei fungierenden Leitfaden, ohne Kenntnis oder gar Verständnis der fundamentalen ontologischen Funktion der Zeit, ohne Einblick in den Grund der Möglichkeit dieser Funktion. Im Gegenteil: die Zeit selbst wird als ein Seiendes unter anderem Seienden genommen, und es wird versucht, sie selbst aus dem Horizont des an ihr unausdrücklich-naiv orientierten Seinsverständnisses in ihrer Seinsstruktur zu fassen.

Im Rahmen der folgenden grundsätzlichen Ausarbeitung der Seinsfrage kann die ausführliche temporale Interpretation der Fundamente der antiken Ontologie — vor allem ihrer wissenschaftlich höchsten und reinsten Stufe bei Aristoteles — nicht mitgeteilt werden. Statt dessen gibt sie eine Auslegung der Zeitabhandlung des Aristoteles2, die zum Diskrimen der Basis und der Grenzen der antiken Wissenschaft vom Sein gewählt werden kann.

Die Aristotelische Abhandlung über die Zeit ist die erste uns überlieferte, ausführende Interpretation dieses Phänomens. Sie hat alle nachkommende Zeitauffassung — die Bergsons inbegriffen — wesentlich bestimmt. Aus der Analyse des Aristotelischen Zeitbegriffes wird zugleich rückläufig deutlich, daß die Kantische Zeitauffassung sich in den von Aristoteles herausgestellten Strukturen bewegt, was besagt, daß Kants ontologische Grundorientierung — bei allen Unterschieden eines neuen Fragens — die griechische bleibt.


2 Physik Δ 10, 217, b 29 - 14, 224, a 17.


Martin Heidegger (GA 2) Sein und Zeit

GA 2