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Das In-Sein als solches

Dadurch, daß gezeigt wird, wie alle Sicht primär im Verstehen gründet — die Umsicht des Besorgens ist das Verstehen als Verständigkeit —, ist dem puren Anschauen sein Vorrang genommen, der noëtisch dem traditionellen ontologischen Vorrang des Vorhandenen entspricht. »Anschauung« und »Denken«a sind beide schon entfernte Derivate des Verstehens. Auch die phänomenologische »Wesensschau« gründet im existenzialen Verstehen. Über diese Art des Sehens darf erst entschieden werden, wenn die expliziten Begriffe von Sein und Seinsstruktur gewonnen sind, als welche einzig Phänomene im phänomenologischen Sinne werden können.

Die Erschlossenheit des Da im Verstehen ist selbst eine Weise des Seinkönnens des Daseins. In der Entworfenheit seines Seins auf das Worumwillen in eins mit der auf die Bedeutsamkeit (Welt) liegt Erschlossenheit von Sein überhauptb. Im Entwerfen auf Möglichkeiten ist schon Seinsverständnis vorweggenommen. Sein ist im Entwurf verstandenc, nicht ontologisch begriffen. Seiendes von der Seinsart des wesenhaften Entwurfs des In-der-Welt-seins hat als Konstitutivum seines Seins das Seinsverständnis. Was früher2 dogmatisch angesetzt wurde, erhält jetzt seine Aufweisung aus der Konstitution des Seins, in dem das Dasein als Verstehen sein Da ist. Eine den Grenzen dieser ganzen Untersuchung entsprechend befriedigende Aufklärung des existenzialen Sinnes dieses Seinsverständnisses wird erst auf Grund der temporalen Seinsinterpretation erreicht werden können.

[148] Befindlichkeit und Verstehen charakterisieren als Existenzialien die ursprüngliche Erschlossenheit des In-der-Welt-seins. In der Weise der Gestimmtheit »sieht« das Dasein Möglichkeiten, aus denen her es ist. Im entwerfenden Erschließen


2 Vgl. § 4, S. 15 ff.

a Dieses als ‚Verstand‘, διάνοια, aber nicht ‚Verstehen‘ aus Verstand verstehen.

b Wie ,liegt' sie darin und was heißt da Seyn?

c Heißt aber nicht: Sein ,sei' von Gnaden des Entwurfs.


Martin Heidegger (GA 2) Sein und Zeit

GA 2