a) Der traditionelle Wahrheitsbegriff und seine ontologischen Fundamente
Drei Thesen charakterisieren die traditionelle Auffassung des Wesens der Wahrheit und die Meinung über ihre erstmalige Definition: 1. Der »Ort« der Wahrheit ist die Aussage (das Urteil). 2. Das Wesen der Wahrheit liegt in der »Ubereinstimmung« des Urteils mit seinem Gegenstand. 3. Aristoteles, der Vater der Logik, hat sowohl die Wahrheit dem Urteil als ihrem ursprünglichen Ort zugewiesen, er hat auch die Definition der Wahrheit als »Übereinstimmung« in Gang gebracht. Eine Geschichte des Wahrheitsbegriffes, die nur auf dem Boden einer Geschichte der Ontologie dargestellt werden könnte, ist hier nicht beabsichtigt. Einige charakteristische Hinweise auf Bekanntes sollen die analytischen Erörterungen einleiten.
Aristoteles sagt: παθήματα της ψυχής των πραγμάτων όμοιώματα10, die »Erlebnisse« der Seele, die νοήματα (»Vorstellungen«), sind Angleichungen an die Dinge. Diese Aussage, die keineswegs als ausdrückliche Wesensdefinition der Wahrheit vorgelegt ist, wurde mit die Veranlassung für die Ausbildung der späteren Formulierung des Wesens der Wahrheit als adaequatio intellectus et rei. Thomas v. Aquin11, der für die Definition auf Avicenna verweist, der sie seinerseits aus Isaak Israelis »Buch der Definitionen« (10. Jahrhundert) übernommen hat, gebraucht für adaequatio (Angleichung) auch die Termini correspondentia (Entsprechung) und convenientia (Übereinkunft). [215]
Die neukantianische Erkenntnistheorie des 19. Jahrhunderts hat diese Wahrheitsdefinition vielfach als Ausdruck eines methodisch zurückgebliebenen naiven Realismus gekennzeichnet und sie für unvereinbar erklärt mit einer Fragestellung, die durch die »kopernikanische Wendung« Kants hindurchgegangen
10 de interpr. 1, 16 a 6.
11 Vgl. Quaest. disp. de veritate qu, I, art. 1.