299
§ 44. Dasein, Erschlossenheit und Wahrheit

λόγος ist die Seinsweise des Daseins, die entdeckend oder verdeckend sein kann. Diese doppelte Möglichkeit ist das Auszeichnende am Wahrsein des λόγος, er ist die Verhaltung, die auch verdecken kann. Und weil Aristoteles die genannte These nie behauptete, kam er auch nie in die Lage, den Wahrheitsbegriff vom λόγος auf das reine νοεῖν zu »erweitern«. Die »Wahrheit« der αΐσθησις und des Sehens der »Ideen« ist das ursprüngliche Entdecken. Und nur weil νόησις primär entdeckt, kann auch der λόγος als διανοεϊν Entdeckungsfunktion haben.

Die These, der genuine »Ort« der Wahrheit sei das Urteil, beruft sich nicht nur zu Unrecht auf Aristoteles, sie ist auch ihrem Gehalt nach eine Verkennung der Wahrheitsstruktur. Nicht die Aussage ist der primäre »Ort« der Wahrheit, sondern umgekehrt, die Aussage als Aneignungsmodus der Entdecktheit und als Weise des In-der-Welt-seins gründet im Entdecken, bzw. der Erschlossenheit des Daseins. Die ursprünglichste »Wahrheit« ist der »Ort« der Aussage und die ontologische Bedingung der Möglichkeit dafür, daß Aussagen wahr oder falsch (entdeckend oder verdeckend) sein können.

Wahrheit, im ursprünglichsten Sinne verstanden, gehört zur Grundverfassung des Daseins. Der Titel bedeutet ein Existenzial. Damit ist aber schon die Antwort vorgezeichnet auf die Frage nach der Seinsart von Wahrheit und nach dem Sinne der Notwendigkeit der Voraussetzung, daß »es Wahrheit gibt«.



c) Die Seinsart der Wahrheit und die Wahrheitsvoraussetzung


Das Dasein ist als konstituiert durch die Erschlossenheit wesenhaft in der Wahrheit. Die Erschlossenheit ist eine wesenhafte Seinsart des Daseins. Wahrheit »gibt es« nur, sofem und solange Dasein ist. Seiendes ist nur dann entdeckt und nur solange erschlossen, als überhaupt Dasein ist. Die Gesetze


Martin Heidegger (GA 2) Sein und Zeit

GA 2