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Zeitlichheit und Geschichtlichkeit

von Geschichte ist die Voraussetzung für den möglichen »Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften«. Die existenziale Interpretation der Historie als Wissenschaft zielt einzig auf den Nachweis ihrer ontologischen Herkunft aus der Geschichtlichkeit des Daseins. Erst von hier aus sind die Grenzen abzustecken, innerhalb deren sich eine am faktischen Wissenschaftsbetrieb orientierte Wissenschaftstheorie den Zufälligkeiten ihrer Fragestellungen aussetzen darf.

Die Analyse der Geschichtlichkeit des Daseins versucht zu zeigen, daß dieses Seiende nicht »zeitlich« ist, weil es »in der Geschichte steht«, sondern daß es umgekehrt geschichtlich nur existiert und existieren kann, weil es im Grunde seines Seins zeitlich ist.

Gleichwohl muß das Dasein auch »zeitlich« genannt werden im Sinne des Seins »in der Zeit«. Das faktische Dasein braucht und gebraucht auch ohne ausgebildete Historie Kalender und Uhr. Was »mit ihm« geschieht, erfährt es als »in der Zeit« [377] geschehend. In derselben Weise begegnen die Vorgänge der leblosen und lebenden Natur »in der Zeit«. Sie sind innerzeitig. Daher läge es nahe, der Erörterung des Zusammenhangs zwischen Geschichtlichkeit und Zeitlichkeit die erst in das nächste Kapitel3 verlegte Analyse des Ursprungs der »Zeit« der Innerzeitigkeit aus der Zeitlichkeit voranzustellen. Um jedoch der vulgären Charakteristik des Geschichtlichen mit Hilfe der Zeit der Innerzeitigkeit die scheinbare Selbstverständlichkeit und Ausschließlichkeit zu nehmen, soll, wie es der »sachliche« Zusammenhang auch fordert, zuvor die Geschichtlichkeit rein aus der ursprünglichen Zeitlichkeit des Daseins »deduziert« werden. Sofern aber die Zeit als Innerzeitigkeit auch aus der Zeitlichkeit des Daseins »stammt«, erweisen sich Geschichtlichkeit und Innerzeitigkeit als gleichursprünglich. Die vulgäre Auslegung des zeitlichen Charakters der Geschichte behält daher in ihren Grenzen ihr Recht.


3 Vgl. § 80, S. 543 ff.


Martin Heidegger (GA 2) Sein und Zeit

GA 2