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Anhang

Was jedoch diese Gedichte Hölderlins in Wahrheit sind, wissen wir trotz der Namen »Elegie« und »Hymne« bis zur Stunde nicht. Die Gedichte erscheinen wie ein tempelloser Schrein, worin das Gedichtete aufbewahrt ist. Die Gedichte sind im Lärm der »undichtrischen Sprachen« (IV, 257) wie eine Glocke, die im Freien hängt und schon durch einen leichten, über sie kommenden Schneefall verstimmt wird. Vielleicht deshalb sagt Hölderlin in späten Versen einmal das Wort, das wie Prosa klingt und doch dichterisch ist wie kaum eines (Entwurf zu Kolomb IV, 395):

Von wegen geringer Dinge
"Verstimmt wie vom Schnee war
Die Glocke, womit
Man läutet
Zum Abendessen.

Vielleicht ist jede Erläuterung dieser Gedichte ein Schneefall auf die Glocke. Was immer auch eine Erläuterung vermag und was sie nicht vermag, von ihr gilt stets dieses: damit das im Gedicht rein Gedichtete um einiges klarer dastehe, muß die erläuternde Rede sich und ihr Versuchtes jedesmal zerbrechen. Um des Gedichteten willen muß die Erläuterung des Gedichtes darnach trachten, sich selbst überflüssig zu machen. Der letzte, aber auch schwerste Schritt jeder Auslegung besteht darin, mit ihren Erläuterungen vor dem reinen Dastehen des Gedichtes zu verschwinden. Das dann im eigenen Gesetz stehende Gedicht bringt selbst unmittelbar ein Licht in die anderen Gedichte. Daher meinen wir beim wiederholenden Lesen, wir hätten die Gedichte schon immer so verstanden. Es ist gut, wenn wir das meinen.


Martin Heidegger (GA 4) Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung