Was heißt »in Wahrheit«? Wahrheit ist das Wesen des Wahren. Woran denken wir, wenn wir Wesen sagen? Als solches gilt gewöhnlich jenes Gemeinsame, worin alles Wahre übereinkommt. Das Wesen gibt sich im Gattungs- und Allgemeinbegriff, der das Eine vorstellt, das für Vieles gleich gilt. Dieses gleich-giltige Wesen (die Wesenheit im Sinne der essentia) ist aber nur das unwesentliche Wesen. Worin besteht das wesentliche Wesen von etwas? Vermutlich beruht es in dem, was das Seiende in Wahrheit ist. Das wahre Wesen einer Sache bestimmt sich aus ihrem wahren Sein, aus der Wahrheit des jeweiligen Seienden. Allein, wir suchen jetzt nicht die Wahrheit des Wesens, sondern das Wesen der Wahrheit. Eine merkwürdige Verstrickung zeigt sich. Ist sie nur eine Merkwürdigkeit oder gar nur die leere Spitzfindigkeit eines Begriffsspieles oder — ein Abgrund?
Wahrheit meint Wesen des Wahren. Wir denken es aus der Erinnerung an das Wort der Griechen. Ἀλήθεια heißt die Unverborgenheit des Seienden. Aber ist das schon eine Bestimmung des Wesens der Wahrheit? Geben wir nicht die bloße Änderung des Wortgebrauches — Unverborgenheit statt Wahrheit — für eine Kennzeichnung der Sache aus? Allerdings bleibt es bei einem Austausch von Namen, solange wir nicht erfahren, was denn geschehen sein muß, um genötigt zu werden, das Wesen der Wahrheit im Wort Unverborgenheit zu sagen.
Ist dazu eine Erneuerung der griechischen Philosophie nötig? Keineswegs. Eine Erneuerung, selbst wenn dies Unmögliche möglich wäre, hülfe uns nichts; denn die verborgene Geschichte der griechischen Philosophie besteht seit ihrem Anfang darin, daß sie dem im Wort ἀλήθεια aufleuchtenden Wesen der Wahrheit nicht gemäß bleibt und ihr Wissen und Sagen vom Wesen der Wahrheit mehr und mehr in die Erörterung eines abgeleiteten Wesens der Wahrheit verlegen muß. Das Wesen der Wahrheit als ἀλήθεια bleibt im Denken der Griechen und erst recht in der nachkommenden Philosophie ungedacht. Die