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Der Ursprung des Kunstwerkes

als ein solches zur Welt bringt. In solchem Sagen werden einem geschichtlichen Volk die Begriffe seines Wesens, d. h. seiner Zugehörigkeit zur Welt-Geschichte vorgeprägt.

Die Dichtung ist hier in einem so weiten Sinne und zugleich in so inniger Wesenseinheit mit der Sprache und dem Wort gedacht, daß es offen bleiben muß, ob die Kunst und zwar in allen ihren Weisen, von der Baukunst bis zur Poesie, das Wesen der Dichtung erschöpft.

Die Sprache selbst ist Dichtung im wesentlichen Sinne. Weil nun aber die Sprache jenes Geschehnis ist, in dem für den Menschen jeweils erst Seiendes als Seiendes sich erschließt, deshalb ist die Poesie, die Dichtung im engeren Sinne, die ursprünglichste Dichtung im wesentlichen Sinne. Die Sprache ist nicht deshalb Dichtung, weil sie die Urpoesie ist, sondern die Poesie ereignet sich in der Sprache, weil diese das ursprüngliche Wesen der Dichtung verwahrt. Bauen und Bilden dagegen geschehen immer schon und immer nur im Offenen der Sage und des Nennens. Von diesem werden sie durchwaltet und geleitet. Deshalb bleiben sie eigene Wege und Weisen, wie die Wahrheit sich ins Werk richtet. Sie sind ein je eigenes Dichten innerhalb der Lichtung des Seienden, die schon und unbeachtet in der Sprache geschehen ista.

Die Kunst ist als das Ins-Werk-Setzen der Wahrheit Dichtung. Nicht nur das Schaffen des Werkes ist dichterisch, sondern ebenso dichterisch, nur in seiner eigenen Weise, ist auch das Bewahren des Werkes; denn ein Werk ist nur als ein Werk wirklich, wenn wir uns selbst unserer Gewöhnlichkeit entrükken und in das vom Werk Eröffnete einrücken, um so unser Wesen selbst in der Wahrheit des Seienden zum Stehenb zu bringen.


a Reclam-Ausgabe 1960: Was sagt dies? Geschieht Lichtung durch die Sprache oder gewährt die ereignende Lichtung erst Sage und Entsagen und so Sprache? Sprache und Leib (Laut und Schrift).

b Reclam-Ausgabe 1960: im Sinne der Inständigkeit im Brauch.


Martin Heidegger (GA 5) Holzwege

GA 5