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Nietzsches Wort »Gott ist tot«

dann, »ich bin noch nicht an der Zeit. Dies ungeheure Ereignis ist noch unterwegs und wandert — es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen. Blitz und Donner brauchen Zeit, das Licht der Gestirne braucht Zeit, Taten brauchen Zeit, auch nachdem sie getan sind, um gesehen und gehört zu werden. Diese Tat ist ihnen immer noch ferner als die fernsten Gestirne — und doch haben sie dieselbe getan!« — Man erzählt noch, daß der tolle Mensch desselbigen Tages in verschiedene Kirchen eingedrungen sei und darin sein Requiem aeternam deo angestimmt habe. Hinausgeführt und zur Rede gesetzt, habe er immer nur dies entgegnet: »Was sind denn diese Kirchen noch, wenn sie nicht die Grüfte und Grabmäler Gottes sind?«


Vier Jahre später (1886) hat Nietzsche den vier Büchern der »Fröhlichen Wissenschaft« ein fünftes hinzugefügt, das betitelt ist: »Wir Furchtlosen«. Das erste Stück dieses Buches (Aphorismus 543) ist überschrieben: »Was es mit unsrer Heiterkeit auf sich hat«. Das Stück beginnt: »Das größte neuere Ereignis — daß ›Gott tot ist‹, daß der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist — beginnt bereits seine ersten Schatten über Europa zu werfen.«

Aus diesem Satz wird klar, daß Nietzsches Wort vom Tod Gottes den christlichen Gott meint. Aber es ist nicht weniger gewiß und im voraus zu bedenken, daß die Namen Gott und christlicher Gott im Denken Nietzsches zur Bezeichnung der übersinnlichen Welt überhaupt gebraucht werden. Gott ist der Name für den Bereich der Ideen und der Ideale. Dieser Bereich [200] des Übersinnlichen gilt seit Platon, genauer gesagt, seit der spätgriechischen und der christlichen Auslegung der Platonischen Philosophie, als die wahre und eigentlich wirkliche Welt. Im Unterschied zu ihr ist die sinnliche Welt nur die diesseitige, die veränderliche und deshalb die bloß scheinbare, unwirkliche Welt. Die diesseitige Welt ist das Jammertal im Unterschied zum Berg der ewigen Seligkeit im Jenseits. Nennen wir,


Martin Heidegger - Hegels Begriff der Erfahrung (GA 5) Holzwege

GA 5