322

Der Spruch des Anaximander

»Woraus aber die Dinge das Entstehen haben, dahin geht 
auch ihr Vergehen nach der Notwendigkeit; denn sie zahlen 
einander Strafe und Buße für ihre Ruchlosigkeit nach der festgesetzten 
Zeit.«
Die Übersetzungen von Nietzsche und Diels sind nach Antrieb 
und Absicht verschiedener Herkunft. Gleichwohl unterscheiden 
sie sich kaum voneinander. Die Übersetzung von 
Diels ist in manchem wörtlicher. Aber solange eine Übersetzung 
nur wörtlich ist, braucht sie noch nicht wortgetreu zu 
sein. Wortgetreu ist sie erst, wenn ihre Wörter Worte sind, 
sprechend aus der Sprache der Sache.
Wichtiger als das allgemeine Zusammenstimm en der beiden 
Übersetzungen ist die ihnen zugrundegelegte Auffassung von 
Anaximander. Nietzsche rechnet ihn unter die Vorplatoniker, 
Diels unter die Vorsokratiker. Beide Benennungen sagen das 
Gleiche. Das unausgesprochene Richtmaß für die Deutung 
und Beurteilung der frühen Denker ist die Philosophie von 
Platon und Aristoteles. Beide gelten als die nach vorwärts und 
rückwärts maßgebenden Philosophen der Griechen. Diese Anschauung 
hat sich auf dem Wege über die Theologie des Christentums 
zu einer allgemeinen und bis heute nicht erschütterten 
Überzeugung verfestigt. Auch dort, wo die philologische 
und historische Forschung sich inzwischen eingehender mit den 
Philosophen vor Platon und Aristoteles beschäftigt, geben bei 
der Interpretation noch die platonischen und aristotelischen 
Vorstellungen und Begriffe, neuzeitlich abgewandelt, den Leitfaden
. Das ist sogar auch dort der Fall, wo man in der Entsprechung 
zur klassischen Archäologie und zur Literaturgeschichte 
versucht, das Archaische im frühen Denken zu treffen. 
Es bleibt bei den klassischen und klassizistischen Vorstellungen. 
Man redet von archaischer Logik und bedenkt nicht, daß 
es eine Logik erst innerhalb des platonischen und aristotelischen 
Schulbetriebes gibt.