191
Schönheit und Wahrheit in einem beglückenden Zwiespalt

mehr wert als die Kunst. Nietzsche aber sagt umgekehrt: Die Kunst ist mehr wert als die Wahrheit. Offenbar verbirgt sich in diesem Satz der Zwiespalt. Wenn aber im Unterschied zu Platon das Verhältnis von Wahrheit und Kunst der Rangordnung umkehrt und wenn für Nietzsche dieses Verhältnis ein Zwiespalt ist. dann folgt daraus nur, daß es für Platon auch ein Zwiespalt, aber ein umgekehrter, sein muß. Wenngleich Nietzsches Philosophie sich als die Umkehrung des Platonismus versteht, so besagt dies doch nicht, durch diese Umkehrung müsse der Zwiespalt zwischen Kunst und Wahrheit verschwinden. Wir können nur sagen: wenn in Platons Lehre zwischen Kunst und Wahrheit ein Zwiespalt ist und Nietzsches Philosophie eine Umkehrung des Platonismus darstellt, dann muß in Nietzsches Philosophie dieser Zwiespalt in der umgekehrten Gestalt zum Vorschein kommen. Also kann für uns der Platonismus eine Anweisung sung sein, um bei Nietzsche — nur umgekehrt — den Zwiespalt und seinen Sitz aufzudecken und damit sein Wissen von Kunst und Wahrheit erst auf den tragenden Grund zu führen.

Was heißt Zwiespalt? Der Zwiespalt ist das Auseinanderklaffen von Zweien, die entzweit sind. Das bloße Klaffen macht freilich noch nicht den Zwiespalt. Zwar sprechen wir im Bezug auf das Klaffende zwischen zwei ragenden Felsen von einem Felsspalt; doch die Felsen sind nicht im Zwiespalt und können es nie sein; denn dazu gehört, daß sie, und zwar von sich aus, sich aufeinander beziehen. Nur was sich aufeinander bezieht, kann gegeneinander sein. Aber auch die Gegensätzlichkeit ist noch nicht Zwiespalt. Das Gegeneinander setzt freilich das Aufeinanderbezogensein, d.h. das Übereinkommen in einer Hinsicht voraus. Ein echter politischer Gegensatz — nicht bloße Handel — ist nur da, wo die politische Ordnung des Selben gewollt wird; hier erst können Wege und Ziele und Grundsätze auseinandergehen. Im Gegensatz herrscht jeweils in der einen Hinsicht Übereinkunft, in einer anderen Verschiedenheit. Was nun aber in derselben Hinsicht, in der es übereinkommt, zugleich auch auseinandergeht, gerät in den Zwiespalt. Hier ist


Martin Heidegger (GA 6 I) Nietzsche I

GA 6-1