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Was heißt Denken?

Alles Gedichtete ist der Andacht des Andenkens entsprungen. Unter dem Titel Mnemosyne sagt Hölderlin:


»Ein Zeichen sind wir, deutungslos ... «


Wer wir? Wir, die heutigen Menschen, die Menschen eines Heute, das schon lange und noch lange währt, in einer Länge, für die keine Zeitrechnung der Historie je ein Maß aufbringt. In derselben Hymne »Mnemosyne« heißt es: »Lang ist / die Zeit« - nämlich die, in der wir ein deutungsloses Zeichen sind. Gibt dies nicht genug zu denken, daß wir ein Zeichen sind und zwar ein deutungsloses? Vielleicht gehört das, was Hölderlin in diesen und in den folgenden Worten sagt, zu dem, woran sich uns das Bedenklichste zeigt, zu dem, daß wir noch nicht denken. Doch beruht dies, daß wir noch nicht denken, darin, daß wir ein deutungsloses Zeichen und schmerzlos sind, oder sind wir ein deutungsloses Zeichen und schmerzlos, insofern wir noch nicht denken? Träfe dieses zuletzt Genannte zu, dann wäre es das Denken, wodurch den Sterblichen allererst der Schmerz geschenkt und dem Zeichen, als welches die Sterblichen sind, eine Deutung gebracht würde. Solches Denken versetzte uns dann auch erst in eine Zwiesprache mit dem Dichten des Dichters, dessen Sagen wie kein anderes sein Echo im Denken sucht. Wenn wir es wagen, das dichtende Wort Hölderlins in den Bereich des Denkens einzuholen, dann müssen wir uns freilich hüten, das, was Hölderlin dichterisch sagt, unbedacht mit dem gleichzusetzen, was wir zu denken uns anschicken. Das dichtend Gesagte und das denkend Gesagte sind niemals das gleiche. Aber das eine und das andere kann in verschiedenen Weisen dasselbe sagen. Dies glückt allerdings nur dann, wenn die Kluft zwischen Dichten und Denken rein und entschieden klafft. Es geschieht, so oft das Dichten ein hohes und das Denken ein tiefes ist. Auch dies wußte Hölderlin. Wir entnehmen sein Wissen den beiden Strophen, die überschrieben sind:


Martin Heidegger (GA 7) Vorträge und Aufsätze

Lectures and Essays page 137