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Was heißt Denken?

Die Philosophie verfährt so, als gäbe es hier überall nichts zu fragen.

Daß jedoch das bisherige Denken im Vorstellen und das Vorstellen in der Re-Präsentation beruht, dies hat seine lange Herkunft. Sie verbirgt sich in einem unscheinbaren Ereignis: das Sein des Seienden erscheint am Anfang der Geschichte des Abendlandes, erscheint für ihren ganzen Verlauf als Präsenz, als Anwesen. Dieses Erscheinen des Seins als das Anwesen des Anwesenden ist selbst der Anfang der abendländischen Geschichte, gesetzt, daß wir die Geschichte nicht nur nach den Geschehnissen vorstellen, sondern zuvor nach dem denken, was durch die Geschichte im vorhinein und alles Geschehende durch waltend geschickt ist.

Sein heißt Anwesen. Dieser leicht hingesagte Grundzug des Seins, das Anwesen, wird nun aber in dem Augenblick geheimnisvoll, da wir erwachen und beachten, wohin dasjenige, was wir Anwesenheit nennen, unser Denken verweist.

Anwesendes ist Währendes, das in die Unverborgenheit herein und innerhalb ihrer west. Anwesen ereignet sich nur, wo bereits Unverborgenheit waltet. Anwesendes ist aber, insofern es in die Unverborgenheit hereinwährt, gegenwärtig.

Darum gehört zum Anwesen nicht nur Unverborgenheit, sondern Gegenwart. Diese im Anwesen waltende Gegenwart ist ein Charakter der Zeit. Deren Wesen läßt sich aber durch den überlieferten Zeitbegriff niemals fassen.

Im Sein, das als Anwesen erschienen ist, bleibt jedoch die darin waltende Unverborgenheit auf die gleiche Weise ungedacht wie das darin waltende Wesen von Gegenwart und Zeit. Vermutlich gehören Unverborgenheit und Gegenwart als Zeitwesen zusammen. Insoweit wir das Seiende in seinem Sein vernehmen, insofern wir, neuzeitlich gesprochen, die Gegenstände in ihrer Gegenständlichkeit vorstellen, denken wir bereits? Auf solche Weise denken wir schon lange. Aber wir denken gleichwohl noch


s 3. Auflage 1967: Repräsentation und Reflexion


Martin Heidegger (GA 7) Vorträge und Aufsätze

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GA 7