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Das Wort ist einem späten und eigentümlich überlieferten Ge- 181 dicht Hölderlins entnommen. Es beginnt: »In lieblicher Bläue blühet mit dem metallenen Dache der Kirchturm...« (Stuttg. Ausg. II, 1 S. 372 ff, Hellingrath VI S. 24 ff.) Damit wir das Wort »... dichterisch wohnet der Mensch ...« recht hören, müssen wir es bedachtsam dem Gedicht zurückgeben. Darum bedenken wir das Wort. Wir klären die Bedenken, die es sogleich erweckt. Denn sonst fehlt uns die freie Bereitschaft, dem Wort dadurch zu antworten, daß wir ihm folgen.

»... dichterisch wohnet der Mensch ...« Daß Dichter bisweilen dichterisch wohnen, ließe sich zur Not vorstellen. Wie soll jedoch »der Mensch«, dies meint: jeder Mensch als Mensch und ständig dichterisch wohnen? Bleibt nicht alles Wohnen unverträglich mit dem Dichterischen? Unser Wohnen ist von der Wohnungsnot bedrängt. Selbst wenn es anders wäre, unser heutiges Wohnen ist gehetzt durch die Arbeit, unstet durch die Jagd nach Vorteil und Erfolg, behext durch den Vergnügungs- und Erholungsbetrieb. Wo aber im heutigen Wohnen noch Raum bleibt für das Dichterische und abgesparte Zeit, vollzieht sich, wenn es hoch kommt, eine Beschäftigung mit dem Schöngeistigen, sei dieses geschrieben oder gesendet. Die Poesie wird entweder als ein verspieltes Schmachten und Verflattern ins Unwirkliche verleugnet und als Flucht in die Idylle verneint, oder man rechnet die Dichtung zur Literatur. Deren Geltung wird mit dem Maßstab der jeweiligen Aktualität abgeschätzt.a Das Aktuelle seinerseits ist durch die Organe der öffentlichen zivilisatorischen Meinungsbildung gemacht und gelenkt. Einer ihrer Funktionäre, das heißt Antreiber und Getriebener zugleich, ist der literarische Betrieb. Dichtung [182] kann so nicht anders erscheinen denn als Literatur. Wo sie gar bildungsmäßig und wissenschaftlich betrachtet wird, ist sie Gegenstand der Literarhistorie.b Abendländische Dichtung läuft unter dem Gesamttitel »Europäische Literatur«.


a Dichter als Schriftsteller, diese »Literaturprodu[zen]ten«

b Poetologie: Literatur und Reflexion —


Martin Heidegger (GA 7) Vorträge und Aufsätze

GA 7