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Logos (Heraklit, Fragment 50)

        des Anwesenden ereignet. Das Anwesen des Anwesenden 
        heißt bei den Griechen τὸ ἐόν, d. h. τὸ ειναι τῶν ὄντων, römisch: esse 
        entium; wir sagen: das Sein des Seienden. Seit dem Beginn des 
        abendländischen Denkens entfaltet sich das Sein des Seienden als 
        das einzig Denkwürdige. Wenn wir diese historische Feststellung 
        geschichtlich denken, dann zeigt sich erst, worin der Beginn des 
        abendländischen Denkens beruht: daß im Zeitalter des Griechentums 
        das Sein des Seienden zum Denkwürdigen wird, ist der 
        Beginn des Abendlandes, ist der verborgene Quell seines Geschickes. 
        Verwahrte dieser Beginn nicht das Gewesene, d.h. die Versammlung 
        des noch Währenden, dann waltete jetzt nicht das Sein des 
        Seienden aus dem Wesen der neuzeitlichen Technik. Durch dieses 
        wird heute der ganze Erdball auf das abendländisch erfahrene, in 
        der Wahrheitsform der europäischen Metaphysik und 
        Wissenschaft vorgestellte Sein um- und festgestellt.
        Im Denken Heraklits erscheint das Sein (Anwesen) des Seienden 
        als ὁ Λόγος, als die lesende Lege. Aber dieser Aufblitz des 
        Seins bleibt vergessen. Die Vergessenheit wird ihrerseits noch 
        dadurch verborgen, daß sich die Auffassung des Λόγος alsbald 
        wandelt. Darum liegt es zunächst und für eine lange Zeit außerhalb 
        des Vermutbaren, im Wort ὁ Λόγος könnte sich gar das Sein 
        des Seienden zur Sprache gebracht haben.
        Was geschieht, wenn das Sein des Seienden, das Seiende in seinem 
        Sein, wenn der Unterschied beider als Unterschied zur Sprache 
        gebracht wird? »Zur Sprache bringen« heißt für uns gewöhnlich: 
        etwas mündlich oder schriftlich ausdrücken. Aber die 
        Wendung möchte jetzt anderes denken: zur Sprache bringen: Sein in 
        das Wesen der Sprache bergen. Dürfen wir vermuten, daß solches 
        sich vorbereitete, als für Heraklit ὁ Λόγος zum Leitwort seines 
        Denkens, weil zum Namen des Seins des Seienden wurde?
        ὁ Λόγος, τὸ Λέγειν ist die lesende Lege. Doch λέγειν heißt für 
        die Griechen immer zugleich: vorlegen, darlegen, erzählen, sagen. 
        ὁ Λόγος wäre dann der griechische Name für das Sprechen 
        als Sagen, für die Sprache. Nicht nur dies. ὁ Λόγος wäre, als die 
        lesende Lege gedacht, das griechisch gedachte Wesen der Sage.
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