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Aletheia (Heraklit, Fragment 16)

Kap. 5): οὕτως γὰρ μόνως ἀπτώς τις διαμένει, εἰ πάντοτε συμπαρεῖναι νομίζοι τὸν θεόν. »So denn allein kommt einer nie zu Fall, wenn er dafürhält, daß überall bei ihm anwese der Gott.« Wer wollte es verwehren, daß Clemens Alexandrinus seinen theologisch-erzieherischen Absichten gemäß sieben Jahrhunderte später das Wort Heraklits in den christlichen Vorstellungsbereich einbezieht und es dadurch auf seine Weise deutet? Der Kirchenvater denkt dabei an das Sich verborgenhalten des sündigen Menschen vor einem Licht. Heraklit dagegen spricht nur von einem Verborgenbleiben. Clemens meint das übersinnliche Licht, τὸν θεόν, den Gott des christlichen Glaubens. Heraklit dagegen nennt nur das nie-Untergehen. Ob dieses von uns betonte »nur« eine Einschränkung bedeutet oder anderes, bleibe hier und im folgenden offen.

Was wäre gewonnen, wollte man die theologische Deutung des Fragments nur als eine unrichtige zurückweisen? So könnte sich höchstens der Anschein verfestigen, die nachstehenden Bemerkungen huldigten der Meinung, Heraklits Lehre in der einzig richtigen Weise und absolut zu treffen. Das Bemühen beschränkt sich darauf, näher am Wort des heraklitischen Spruches zu bleiben. Dies könnte dazu beitragen, ein künftiges Denken in den Bereich noch ungehörter Zusprüche einzuweisen.

Insofern diese aus dem Geheiß kommen, unter dem das Denken steht, liegt wenig daran, abzuschätzen und zu vergleichen, 253 welche Denker in welche Nähe jener Zusprüche gelangten. Vielmehr sei alle Bemühung darauf verwendet, uns durch die Zwiesprache mit einem frühen Denker dem Bereich des zu-Denkenden näher zu bringen.

Einsichtige verstehen, daß Heraklit anders zu Platon, anders zu Aristoteles, anders zu einem christlichen Kirchenschriftsteller, anders zu Hegel, anders zu Nietzsche spricht. Bleibt man in der historischen Feststellung dieser vielfältigen Deutungen hängen, dann muß man sie für nur beziehungsweise richtig erklären. Man sieht sich durch eine solche Vielfalt von dem Schreckgespenst des Relativismus bedroht und zwar notwendig. Weshalb?


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