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Aletheia (Heraklit, Fragment 16)

Je bekannter ihnen alles Kennbare wird, um so befremdlicher bleibt es ihnen, ohne daß sie dies wissen können. Sie würden auf all solches erst aufmerksam, wenn sie fragen möchten: wie könnte denn irgendwer, dessen Wesen der Lichtung zugehört, jemals sich dem Empfangen und Hüten der Lichtung entziehen? Wie könnte er dies, ohne alsbald zu erfahren, daß ihm das Alltägliche nur deshalb das Geläufigste sein kann, weil diese Geläufigkeit an das Vergessen dessen verschuldet bleibt, was auch das anscheinend von selbst Bekannte erst ins Licht eines Anwesenden bringt?

Das alltägliche Meinen sucht das Wahre im Vielerlei des immer Neuen, das vor ihm ausgestreut wird. Es sieht nicht den stillen Glanz (das Gold) des Geheimnisses, das im Einfachen der Lichtung immerwährend scheint. Heraklit sagt (Fragment 9):


ὄνους σύρματ᾽ἂν ἑλέσθαι μᾶλλον ἢ χρυσόν.

»Esel holen sich Spreu eher als Gold.«


Aber das Goldene des unscheinbaren Scheinens der Lichtung läßt sich nicht greifen, weil es selbst kein Greifendes, sondern das reine Ereignen ist. Das unscheinbare Scheinen der Lichtung entströmt dem heilen Sichbergen in der ansichhaltenden Verwahrnis des Geschickes. Darum ist das Scheinen der Lichtung in sich zugleich das Sichverhüllen und in diesem Sinne das Dunkelste.

Heraklit heißt ὁ Σκοτεινός. Er wird diesen Namen auch künftig behalten. Er ist der Dunkle, weil er fragend in die Lichtung denkt.


Martin Heidegger (GA 7) Vorträge und Aufsätze

GA 7