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Siebente Stunde

nicht mehr dem Wesen dessen, was die Griechen unter dem Namen ζωον λόγον ἔχον dachten. Darnach ist der Mensch jenes »aufgehend Anwesende, das Anwesendes erscheinen lassen kann«. Für die nachkommende abendländische Vorstellungsweise wird der Mensch ein eigentümlich gebautes Zusammen von Tierheit und Vernünftigkeit. Allein für Nietzsche ist weder das Wesen der Tierheit, noch das Wesen der Vernunft, noch die gemäße Wesenseinheit beider festgestellt, d.h. ausgemacht und gesichert. Deshalb klaffen die beiden Wesensbezirke Tierheit und Vernünftigkeit auseinander und gegeneinander. Durch diesen Zwiespalt wird der Mensch verhindert, in seinem Wesen einig zu sein und dadurch frei für das, was man das Wirkliche zu nennen pflegt. Deshalb gehört vor allem dies zum Denkweg Nietzsches: über den bisherigen, in seinem Wesen noch nicht festgestellten Menschen hinüberzugehen, nämlich in die vollständige Feststellung seines vollen bisherigen Wesens. Der Denkweg Nietzsches möchte im Grunde nichts umstürzen, sondern nur etwas nachholen. Den Weg des Hinübergehens über den bisherigen Menschen kennzeichnet Nietzsche durch den viel mißdeuteten und mißbrauchten Namen »der Ubermensch«. Um es erneut einzuschärfen: der Übermensch ist im Sinne Nietzsches nicht ein überdimensionierter bisheriger Mensch. »Der Übermensch« übertreibt nicht einfach die bisherigen Triebe und das Betreiben der bisherigen Menschenart ins Übermäßige und Maßlose. Der Übermensch unterscheidet sich also nicht quantitativ, sondern qualitativ vom bisherigen Menschen. Für den Übermenschen fällt gerade das Maßlose, das bloß Quantitative des Immerzu des Fortschritts dahin. Der Übermensch ist ärmer, einfacher, zarter und härter, stiller und opfernder und langsamer in seinen Entschlüssen und sparsamer in seiner Rede. Der Übermensch tritt auch nicht massenweise auf und nicht beliebig, sondern erst dann, wenn die Rangordnung durchgeführt ist. Unter Rangordnung in der wesenhaften Bedeutung, nicht bloß im Sinne einer irgendwie gestuften Regelung schon bestehender Zustände, versteht Nietzsche die Maßgabe, daß die Menschen nicht gleich sind, daß nicht


Martin Heidegger (GA 8) Was heisst Denken?