251

Bisher unveröffentlichter Textabschnitt aus der neunten Vöriesungsstundeίπι Wintersemester 1951/52


Was hat man in dem vergangenen halben Jahrhundert aus Nietzsche gemacht? Was hat man seinem Denken alles aufgebürdet? Noch heute genügt es, auch nur den Namen »Nietzsche« auszusprechen, daß Viele sogleich den leibhaftigen Teufel vor sich zu sehen meinen.

Nietzsche wäre entsetzt gewesen, wenn er von der vermeintlichen Zustimmung und Nachfolge erfahren hätte, womit man ihn bei uns in den vergangenen Jahrzehnten überfiel. — Nietzsche wäre aber nicht minder entsetzt gewesen, wenn er von den Widerlegungen und Verurteilungen gehört hätte, womit er von anderer Seite zugedeckt werden sollte.

Wäre Nietzsche entsetzt gewesen? Nein — er hätte nur verachtet — aber verachtet nicht mit einer Verachtung, die aus dem Haß und aus dem Sumpfe kommt, sondern mit jener, die er im III. Teil des »Zarathustra« nennt, wo Zarathustra sagt: »Oh meine Seele, ich lehrte dich das Verachten, das nicht wie ein Wurmfrass kommt, das grosse, das liebende Verachten, welches am meisten liebt, wo es am meisten verachtet.« Bei solchen Worten müssen wir stets, vor allem wenn wir sie gesondert anführen, auf die Uberschrift achten, unter der sie stehen. Hier lautet sie: »Von der grossen Sehnsucht«.

Dieses Verachten, das »aus der Liebe allein auffliegen soll«, gehört zu dem, was auf dem Weg zum Ubermenschen erschaut ist.

Wie steht es aber dort, wo der Ubermensch auch die Liebe nicht mehr vermag? Nietzsche antwortet hierauf in jenem Stück, wo er von dem Narren Zarathustras berichtet, der Zarathustra dazu verleiten möchte, seinem Haß auf »die grosse Stadt« freien Lauf zu lassen — das ist die Stadt der »Aufdringlinge, der Unverschämten, der Schreib- und Schreihälse, der überheizten Ehrgeizigen«. Was antwortet Zarathustra auf dieses Ansinnen seines Narren?