188
Vom Wesen der Wahrheit

dieses Wesen der Freiheit zu denken? Das Offenbare, dem sich ein vorstellendes Aussagen als richtiges angleicht, ist das jeweils in einem offenständigen Verhalten offene Seiende. Die Freiheit zum Offenbaren eines Offenen läßt das jeweilige Seiende das Seiende sein, das es ist. Freiheit enthüllt sich jetzt als das Seinlassena von Seiendem.

Gewöhnlich sprechen wir vom Seinlassen, wenn wir z.B. von einem geplanten Unternehmen abstehen. »Wir lassen etwas sein«, heißt: wir rühren nicht mehr daran und machen uns dabei nicht weiter zu schaffen. Das Seinlassen von etwas hat hier den verneinenden Sinn des Absehens von etwas, des Verzichtens auf etwas, der Gleichgültigkeit und gar der Unterlassung.

Das hier nötige Wort vom Sein-lassen des Seienden denkt jedoch nicht an Unterlassung und Gleichgültigkeit, sondern an das Gegenteil. Sein-lassen ist das Sicheinlassen auf dasSeiendeb. Dies wird freilich wiederum nicht nur als bloße Betreibung, Behütung, Pflege und Planung des jeweils begegnenden oder aufgesuchten Seienden verstanden. Seinlassen — das Seiende nämlich als das Seiende, das es ist — bedeutet, sich einlassen auf das Offene und dessen Offenheit, in die jegliches Seiende hereinsteht, das jene gleichsam mit sich bringt. Dieses Offene hat das abendländische Denken in seinem Anfang begriffen als τὰ ἀλήθεια Unverborgene. Wenn wir ἀλήθεια statt mit »Wahrheit« durch »Unverborgenheit« übersetzen, dann ist diese Übersetzung nicht nur »wörtlicher«, sondern sie enthält die Weisung, den gewohnten Begriff der Wahrheit im Sinne der Richtigkeit der Aussage um- und zurückzudenken in jenes noch Unbegriffene der Entborgenheit und der Entbergung des Seienden. Das Sicheinlassen auf die Entborgenheit des Seienden verliert sich nicht in dieser, sondern entf altét sich zu einem Zurücktreten


a 1. Auflage 1943: Sein-lassen: 1. nicht negativ, sondern gewahren — Wahrnis; 2. nicht als ontisch gerichtetes Wirken. Achten, er-achten das Sein als Seyn.

b 1. Auflage 1943: dem Anwesenden sein Anwesen lassen und nichts anderes dazu und dazwischen bringen.


Martin Heidegger (GA 9) Wegmarken

GA 9