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Vom Wesen der Wahrheit

vor dem Seienden, damit dieses in dem, was es ist und wie es ist, sich offenbare und die vorstellende Angleichung aus ihm das Richtmaß nehme. Als dieses Sein-lassen setzt es sich dem Seienden als einem solchen aus und versetzt alles Verhalten ins Offene. Das Sein-lassen, d. h. die Freiheit ist in sich aus-setzend, ek-sistent. Das auf das Wesen der Wahrheit hin erblickte Wesen der Freiheit zeigt sich als die Aussetzung in die Entborgenheit des Seienden.

Freiheit ist nicht nur das, was der gemeine Verstand gern unter diesem Namen umlaufen läßt: das zuweilen auftauchende Belieben, in der Wahl nach dieser oder jener Seite auszuschlagen. Freiheit ist nicht die Ungebundenheit des Tun- und Nichttunkönnens. Freiheit ist aber auch nicht erst die Bereitschaft für ein Gefordertes und Notwendiges (und so irgendwie Seiendes). Die Freiheit ist alldem (der »negativen« und »positiven« Freiheit) zuvor die Eingelassenheit in die Entbergung des Seienden als eines solchen. Die Entborgenheit selbst wird verwahrt in dem ek-sistenten Sich-einlassen, durch das die Offenheit des Offenen, d. h. das »Da« ist, was es ist.

Im Da-sein wird dem Menschen der langehin ungegründete Wesensgrund aufbehalten, aus dem er zu ek-sistieren vermag. »Existenz« heißt hier nicht existentia im Sinne des Vorkommens und »Daseins« (Vorhandenseins) eines Seienden. »Existenz« bedeutet hier aber auch nicht »existenziell« die auf eine leiblich-seelische Verfassung gebaute sittliche Bemühung des Menschen um sein Selbst. Die in der Wahrheit als Freiheit gewurzelte Ek-sistenz ist die Aus-setzung in die Entborgenheit des Seienden als eines solchen. Noch unbegriffen, ja nicht einmal einer Wesensgründung bedürftig, fängt die Ek-sistenz des geschichtlichen Menschen in jenem Augenblick an, da der erste Denker fragend sich der Unverborgenheit des Seienden stellt mit der Frage, was das Seiende sei. In dieser Frage wird erstmals die Unverborgenheit erfahren. Das Seiende im Ganzen enthüllt sich als φύσις, die »Natur«, die hier noch nicht ein besonderes Gebiet des Seienden meint, sondern das Seiende als


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GA 9