200
Vom Wesen der Wahrheit

Bei dieser Wesensdeutung der Philosophie blickt Kant, dessen Werk die letzte Wendung der abendländischen Metaphysik einleitet, in einen Bereich hinaus, den er gemäß seiner metaphysischen Grundstellung in der Subjektivität zwar nur aus dieser begreifen konnte und als Selbsthalten eigener Gesetze begreifen mußte. Dieser Wesensblick in die Bestimmung der Philosophie ist dennoch weit genug, um jede Verknechtung ihres Denkens zu verwerfen, deren hilfloseste Art in der Ausflucht sich versteckt, die Philosophie als einen »Ausdruck« der »Kultur« (Spengler) und als Zierde eines schaffenden Menschentums gerade noch gelten zu lassen.

Ob jedoch die Philosophie ihr anfänglich entschiedenes Wesen erfüllt als »Selbsthalterin ihrer Gesetze«, oder ob sie nicht selbst erst gehalten und zum Halten bestimmt wird durch die Wahrheit dessen, wovon ihre Gesetze je Gesetze sind, das entscheidet sich aus der Anfänglichkeit, in der das ursprüngliche Wesen der Wahrheit für das denkende Fragen wesentlich wird.

Der hier vorgetragene "Versuch führt die Frage nach dem Wesen der Wahrheit über das Gehege der gewohnten Umgrenzung im üblichen Wesensbegriff hinaus und verhilft zum Nachdenken darüber, ob die Frage nach dem Wesen der Wahrheit nicht zugleich und zuerst die Frage nach der Wahrheit des Wesens sein muß. Im Begriff des »Wesens« aber denkt die Philosophie das Sein, Die Rückführung der inneren Möglichkeit der Richtigkeit einer Aussage auf die ek-sistente Freiheit des Seinlassens als ihren »Grund«, insgleichen die Vordeutung auf den Wesensanfang dieses Grundes in der Verbergung und der Irre, möchten darauf hinzeigen, daß das Wesen der Wahrheit nicht das leere »Generelle« einer »abstrakten« Allgemeinheit ist, sondern das sich verbergende Einzige der einmaligen Geschichte der Entbergung des »Sinnes« dessen, was wir das Sein nennen und seit langem nur als das Seiende im Ganzen zu bedenken gewohnt sind.


Martin Heidegger (GA 9) Wegmarken

GA 9