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Vom Wesen und Begriff der Φύσις

und aus dieser Macht zur Meisterung der Welt im Sinne einer planmäßigen Weltherrschaft sich befähigt.

Und schließlich wird »Natur« das Wort für Jenes, was nicht nur über allem »Elementaren« und allem Menschlichen, sondern sogar über den Göttern ist. So sagt Hölderlin in der Hymne »Wie wenn am Feiertage ...« (III. Strophe) :

»Jetzt aber tagts ! Ich harrt und sah es kommen.
Und was ich sah, das Heilige sei mein Wort.
Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten
Und über die Götter des Abends und Orients ist,
Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht.
Und hoch vom Äther bis zum Abgrund nieder,
Nach festem Gesetze wie einst aus heiligem Chaos gezeugt,
Fühlt neu die Begeisterung sich,
Die Allerschaffende wieder.«

(»Natur« wird hier zur Nennung dessen, was über den Göttern und »älter denn die Zeiten« ist, zu denen je Seiendes seiend wird. »Natur« wird das Wort für das »Sein«; denn dieses ist früher denn jegliches Seiende, das von ihm zu Lehen hat, was es ist; und unter dem»Sein«stehen auch noch alle Götter, sofern sie sind und wie sie auch sind.)

Hier wird das Seiende i. G. weder »naturalistisch« mißdeutet und auf die »Natur« im Sinne des kraftbegabten Stoffes zusammengezogen, noch wird das Seiende i. G. »mystisch« verdunkelt und in das Unbestimmbare zerdehnt.

Welche Tragkraft immer dem Wort »Natur« in den verschiedenen Zeitaltern der abendländischen Geschichte zugemutet ist, jedesmal enthält es eine Auslegung des Seienden im Ganzen, dies auch dort, wo es scheinbar nur als Gegenbegriff gemeint ist. In all diesen Unterscheidungen ist die Natur nicht nur eine Gegenseite, sondern wesentlich in der Vorhand, sofern immer und zuerst gegen sie unterschieden und so das Unterschiedene von ihr her bestimmt wird. (Wenn z.B. »Natur« einseitig äußerlich als »Stoff«, »Materie«, Element, Verfassungsloses gilt,


Martin Heidegger (GA 9) Wegmarken

GA 9