243
Vom Wesen und Begriff der Φύσις

Im ersten Kapitel des zweiten der acht Bücher »der Physik« 313 (Physik B, 1, 192b 8—193b 21) gibt Aristoteles die alle nachkommende Wesensdeutung der »Natur« tragende und leitende Auslegung der φύσις. Hier hat auch die später aufkommende Wesensbestimmung der Natur aus der Unterscheidung zum Geist und durch den »Geist« ihre verborgene Wurzel, Womit sich andeutet, daß die Unterscheidung von »Natur und Geist« schlechthin ungriechisch ist.

Bevor wir den einzelnen Schritten der aristotelischen Wesensbestimmung der φύσις folgen, beachten wir zwei Satze, die Aristoteles im ersten einleitenden Buch (A) ausspricht:

ἡμῖν δ' ὑποκείσθω τὰ φύσει ἢ πάντα ἢ ἔνια κινούμενα εἶναι· δῆλον δ' ἐκ τῆς ἐπαγωγῆς.
»Für uns aber soll im vorhinein (als ausgemacht) vorliegen, daß das von der φύσις her Seiende entweder Alles oder Einiges / das Nichtruhende / ein Bewegtes (durch Bewegtheit Bestimmtes) sei; offenkundig aber ist das aus der unmittelbaren Hinführung (zu diesem Seienden und über dieses Seiende weg zu seinem ›Sein‹).« (A. 2, 185 a 12 ff.)

Hier hebt Aristoteles eigens hervor, was er im Entwurf des Wesens der φύσις als das Entscheidende er-sieht: κίνησις, die Bewegtheit; und deshalb wird zu einem Kernstück der Frage nach der »Physik« die Bestimmung des Wesens der Bewegung. Uns Heutigen gilt es nur noch als ein Gemeinplatz, zu sagen, die Naturvorgänge seien Bewegungsvorgänge, ein Ausdruck, der ja ohnedies schon zweimal dasselbe sagt. Wir ahnen nichts vom Gewicht der angeführten aristotelischen Sätze und seiner Auslegung der φύσις, wenn wir nicht wissen, daß das, was uns als Gemeinplatz gilt, für ihn und durch ihn erstmals in den prägenden Wesensblick des abendländischen Menschen gehoben wurde. Zwar haben die Griechen vor Aristoteles schon erfahren, daß Himmel und Meer, Pflanzen und Tiere in Bewegung sind; zwar haben schon die Denker vor Aristoteles zu sagen versucht, was Bewegung sei; und dennoch hat er erstmals jene Stufe des


Martin Heidegger (GA 9) Wegmarken

GA 9