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Vom Wesen und Begriff der Φύσις

Wenn wir das von der φύσις her Seiende geradezu erfahren und meinen, steht je schon im Blick »Bewegtes« und Bewegtheit; aber das im Blick Stehende ist noch nicht als das, was es ist und west, ausgemacht.

Die Frage nach der φύσις muß daher bei der Bewegtheit dieses Seienden anfragen und zusehen, was mit Bezug auf diese die φύσις sei. Um jedoch die Richtung dieses Fragens eindeutig festzumachen, muß innerhalb des Seienden i.G. jener Bereich erst einmal abgehoben werden, von dem wir sagen, das ihm zugehörige Seiende sei ein durch die φύσις Bestimmtes: τὰ φύσει ὄντα.

Mit dieser Abhebung setzt Phys. B, 1 ein. (Im Folgenden wird eine nach geeigneten Absätzen gegliederte »Übersetzung« gegeben; da diese schon die eigentliche Auslegung ist, bedarf es nur einer Erläuterung der »Übersetzung«. Die »Übersetzung« ist allerdings keine Übertragung des griechischen Wortes in die eigene Tragkraft unserer Sprache. Sie will nicht das griechische Wort ersetzen, sondern gerade nur in dieses versetzen und als Versetzung in ihm verschwinden. Daher fehlt ihr auch alle Prägung und Rundung aus dem eigenen Sprachgrund, und sie kennt nicht das Gefällige und »Glatte«.)

»Von dem Seienden (im-Ganzen) ist das Eine aus der φύσις her, das Andere jedoch durch andere ›Ursachen‹; von der φύσις her sind aber, wie wir sagen, die Tiere sowohl als auch ihre Glieder (Teile), ebenso die Pflanzen, desgleichen die Einfachen der Körper wie Erde und Feuer und Wasser und Luft.« (192b 8—11)

Das andere Seiende, das jetzt noch nicht eigens genannt wird, ist durch andere »Ursachen«; das Eine, »Genannte« aber durch die φύσις. Also wird die φύσις sogleich als »Ur-sache« angesetzt (αἴτιον - αἰτία). Bei dem Wort und Begriff »Ursache« denken wir wie von selbst an »Kausalität«, an die Art und Weise, wie ein Ding auf ein anderes »wirkt«. Αἴτιον — wofür Aristoteles alsbald eine schärfere Bestimmung einführt, meint hier Jenes, was verschuldet, daß ein Seiendes das ist, was es ist. Dieses


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GA 9