DRITTE STUNDE


Nihil est sine ratione. Nichts ist ohne Grund — sagt der Satz vom Grund. Nichts, also auch nicht dieser Satz vom Grund, er fürwahr am wenigsten. Es sei denn, gerade der Satz vom Grund und das, wovon er sagt, und dieses Sagen selber gehörten nicht in den Geltungsbereich des Satzes vom Grund. Dies zu denken, bleibt eine arge Zumutung. Sie meint, kurz gesagt: Der Satz vom Grund ist ohne Grund. Noch deutlicher gesprochen: »Nichts ohne Grund« — dies, also etwas, ohne Grund. Verhält es sich so, dann erscheint vor uns ein Sachverhalt, der aufs äußerste befremdet, aber nur für einen Augenblick; denn wir wissen in solchen Fällen einen Ausweg. Welcher Fall liegt vor? »Nichts ohne Grund« — selber grundlos — das ist ein offenkundiger Widerspruch. Was jedoch in sich widersprechend ist, kann nicht sein. Dies sagt der Grundsatz vom Widerspruch. Er lautet kurz gefaßt: esse non potest, quod implicat contradictionem; was einen Widerspruch in sich schließt, kann nicht sein. Wann und wo immer wir zu dem gelangen wollen, was sein kann und wirklich ist, müssen wir die Widersprüche vermeiden, d.h. den Grundsatz vom Widerspruch befolgen. Darum sieht es jede Bemühung um ein gesichertes Wissen von dem, was ist, darauf ab, Widersprüche nicht nur zu vermeiden, sondern vorliegende Widersprüche durch geeignete neue Annahmen aufzulösen. Die Wissenschaften trachten darnach, die je und je in den Theorien auftretenden Widersprüche und die in den beobachteten Tatbeständen auftauchenden Widerstreite schrittweise zu beseitigen. Dieser Stil des Vorstellens bestimmt die Leidenschaft der modernen Wissenschaft. Der Grundsatz des Widerspruchs, sein Anspruch auf unbedingte Befolgung, ist der geheime Stachel, der die moderne Wissenschaft antreibt. Wie steht es aber in unserem Fall, den wir auf die Formel bringen


Martin Heidegger (GA 10) Der Satz vom Grund page 27