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Sechste Stunde

die »Vom Wesen des Grundes« handelt. Für diese Abhandlung liegt klar vor Augen, daß der Satz »Nichts ist ohne Grund« etwas über das Seiende aussagt und keine Aufhellung darüber gibt, was »Grund« heißt. Diese Sicht auf den vorliegenden Inhalt des Satzes gelangt nun aber nicht zum Einblick in das Nächstliegende. Statt dessen läßt sie sich zu einem Schritt fortreißen, der fast unvermeidlich ist. Den Schritt können wir in einer Schlußfolge also darstellen:

Der Satz vom Grund ist eine Aussage über das Seiende. Demnach gibt er keine Auskunft über das Wesen des Grundes. Also eignet sich der Satz vom Grund, zumal in seiner überlieferten Fassung, nicht als Leitfaden für eine Erörterung dessen, wonach unser Sinn steht, wenn wir das Wesen des Grundes bedenken.

Wir sehen: Der Satz vom Grund sagt etwas über das Seiende. Was aber lassen wir nicht in den Blick kommen, wenn wir es bei der vorigen Feststellung bewenden lassen? Was ist im Gesehenen noch erblickbar? Wir kommen dem hier Erblickbaren näher, sobald wir den Satz vom Grund in derjenigen Betonung noch deutlicher hören und im Gehör behalten, die wir vorgreifend die meißgebende nannten. Nihil est sine ratione. »Nichts ist ohne Grund.«.. Die Betonung läßt uns einen Einklang von »ist« und »Grund«, est und ratio hören. Diesen Einklang haben wir sogar schon gehört, bevor wir feststellen, der Satz vom Grund sage über das Seiende aus, darüber, daß es einen Grund habe. Unser Denken soll jetzt das in der Betonung eigentlich schon Gehörte erblicken. Das Denken soll Hörbares erblicken. Es er-blickt dabei das zuvor Un-erhörte. Das Denken ist ein Erhören, das erblickt. Im Denken vergeht uns das gewöhnliche Hören und Sehen deshalb, weil das Denken uns in ein Erhören und Erblicken bringt. Das sind befremdliche und doch nur sehr alte Weisungen. Wenn Platon das, was am Seienden das Eigentliche ausmacht, ΐδέα nennt, das Gesicht des Seienden und das von uns Gesichtete, wenn früher noch Heraklit das, was am Seienden das Eigentliche ausmacht, λόγος nennt, den Spruch des Seienden,


Martin Heidegger (GA 10) Der Satz vom Grund