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Vorlesung

den, dem wir im Hören entsprechen, dann gibt uns dieses beides Kunde davon, daß das Denken ein Hören und ein Sehen ist. Wir sind jedoch schnell bei der Hand zu erklären: Ein Hören und Sehen kann das Denken nur in einem übertragenen Sinne heißen. In der Tat. Das im Denken Erhörte und Erblickte läßt sich nicht mit unseren Ohren hören, nicht mit unseren Augen sehen. Es ist nicht durch unsere Sinnesorgane wahrnehmbar. Fassen wir das Denken als eine Art Hören und Sehen, dann wird das sinnliche Hören und Sehen übernommen und hinübergenommen in den Bereich des nicht-sinnlichen Vernehmens, d. h. des Denkens. Solches Hinübertragen heißt griechisch μεταφέρειν. Die Gelehrtensprache nennt eine solche Übertragung Metapher. Das Denken darf somit nur im metaphorischen, übertragenen Sinne ein Hören und Erhören, ein Blicken und Erblicken genannt werden. Wer sagt hier »darf«? Derjenige, der behauptet, das Hören mit dem Ohr und das Sehen mit dem Auge sei das eigentliche Hören und Sehen.

Die Weise, wie wir im Hören und Sehen etwas wahrnehmen, geschieht durch die Sinne, ist sinnlich. Diese Feststellungen sind richtig. Sie bleiben dennoch unwahr, weil sie Wesentliches auslassen. Wir hören zwar eine Bachsche Fuge durch die Ohren, allein wenn hier nur dies das Gehörte bliebe, was als Schallwelle das Trommelfell beklopft, dann könnten wir niemals eine Bachsche Fuge hören. Wir hören, nicht das Ohr. Wir hören allerdings durch das Ohr, aber nicht mit dem Ohr, wenn »mit« hier sagt, das Ohr als Sinnesorgan sei das, was uns das Gehörte ermittelt. Wenn daher das menschliche Ohr stumpf wird, d. h. taub, dann kann es sein, daß, wie der Fall Beethovens zeigt, ein Mensch gleichwohl noch hört, vielleicht sogar noch mehr und Größeres hört als zuvor. Nebenbei sei vermerkt, daß »taub«, »tumb« soviel bedeutet wie stumpf, weshalb dasselbe tumb im Griechischen wiederkehren kann im Wort τυφλός, d. h. stumpf im Sehen, also blind.

Das jeweils von uns Gehörte erschöpft sich niemals in dem, was unser Ohr als ein in gewisser Weise abgesondertes Sinnesorgan


Martin Heidegger (GA 10) Der Satz vom Grund