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Neunte Stunde

consequens ist. Vielmehr ist die Gegenständigkeit, die dem Gegenstand den Grund seiner Möglichkeit zureicht, das antecedens, das Vorhergehende, das a priori.

Die mittelalterlich-scholastische Bestimmung des ens qua ens stammt von Aristoteles und zwar aus dem Beginn des IV. Buches der »Metaphysik«. Was man unter diesem Titel »Die Metaphysik des Aristoteles« kennt, ist kein »Werk«, sondern eine nicht von Aristoteles vorgenommene Zusammenstellung von Abhandlungen, deren Fragen jeweils in ganz verschiedenen Bezirken und Richtungen ansetzen.

Die »Metaphysik« des Aristoteles ist, literarisch gesehen, völlig uneinheitlich, auf den Inhalt gedacht, in jedem Stück je auf andere Weise fragend.

Der erste Satz des ersten Kapitels des IV. Buches lautet:

Ἔστιν ἐπιστήμη τις ἣ θεωρεῖ τὸ ὂν ᾗ ὂν καὶ τὰ τούτῳ ὑπάρχοντα καθ᾽ αὑτό.

Erläuternd übersetzt sagt dies:

»Es gibt so etwas wie ein Verstehen, das in den Blick nimmt das Anwesende als anwesend und in einem damit das (in den Blick nimmt), was dem Anwesen, es von ihm selbst her darbietend, zu Gebote steht.«

Hier ist weder von dem Transzendentalen die Rede, das im Sinne Kants das Seiende als Gegenstand in seiner Gegenständigkeit bestimmt, noch aber auch von einem modus entis generaliter consequens omne ens. Und dies aus dem einfachen Grunde, weil griechisch gedacht wird und vom ὄν die Rede ist Das ὄν ist φύσις τις, dergleichen wie ein von-sich-her-Aufgehen. Das ὄν ist nicht ens im Sinne des ens creatum der mittelalterlichen Scholastik, Seiendes als das von Gott Geschaffene. Ὄν ist aber auch nicht der Gegenstand hinsichtlich seiner Gegenständigkeit. Was im Sinne des Aristoteles das Seiende hinsichtlich seines Seins bestimmt und wie das geschieht, ist anders erfahren als in der mittelalterlichen Lehre vom ens qua ens. Es wäre jedoch töricht zu sagen, die mittelalterlichen Theologen hätten den Aristoteles mißverstanden; vielmehr haben sie ihn anders


Martin Heidegger (GA 10) Der Satz vom Grund

The Principle of Reason p. 79