DREIZEHNTE STUNDE
Der Satz vom Grund lautet: Nichts ist ohne Grund. Nihil est sine ratione. Grund ist die Übersetzung von ratio. Eine Übersetzung wird dort, wo das Sprechen der Grundworte von einer geschichtlichen Sprache in die andere übersetzt, zur Überlieferung. Eine Überlieferung kann, wenn sie erstarrt, zur Last und zum Hemmnis ausarten. Sie kann es, weil die Überlieferung eigentlich, was ihr Name sagt, ein Liefern im Sinne des liberare, der Befreiung ist. Als ein Befreien hebt die Überlieferung verborgene Schätze des Gewesenen ans Licht, sei dies Licht auch erst nur das einer zögernden Morgendämmerung. Daß »Grund« die Übersetzung von ratio sei, will sagen: Die ratio hat sich in den Grund überliefert, welche Überlieferung schon früh doppelsinnig spricht. Die doppelsinnige Überlieferung der ratio in Grund und Vernunft erlangt freilich erst dort ihr entscheidendes Gepräge, wo das Geschick des Seins jene Epoche bestimmt, die nach der historischen Zeitrechnung die »Neuzeit« heißt. Wenn anders Sein und Grund das Selbe »sind«, dann muß das neuzeitliche Seinsgeschick auch den alten römischen Doppelsinn der ratio verwandeln.
Soweit auch der Sinn vom Grund, nämlich Boden und Erde, dem Sinn von Vernunft, nämlich Vernehmen, Hören entfernt bleiben mag, im Doppelsinn der ratio sind beide Bedeutungen schon frühzeitig beisammen, wenngleich nicht eigens in ihrer Zusammengehörigkeit bedacht. Sachgemäßer müssen wir sagen: In dem, was die ratio nennt, sind beide Richtungen dieses Doppelsinnes, Vernunft und Grund, vorgezeichnet. Denn was heißt ratio? Wir antworten durch eine Übersetzung des Wortes ratio. Sie lautet: Rechnung. Aber Rechnung ist hier im Sinne des Zeitwortes reor zu denken, dem das Hauptwort ratio zugehört. Rechnen heißt: etwas nach etwas richten, etwas als etwas