Sehr geehrter Herr P. Richardson!
Mit einigem Zögern versuche ich, die beiden Hauptfragen Ihres Briefes vom 1. März 1962 zu beantworten. Die eine Frage betrifft den ersten Anstoß, der meinen Denkweg bestimmt hat. Die andere Frage verlangt eine Auskunft über die vielberedete Kehre.
Ich zögere mit den Antworten, weil sie notgedrungen nur Hinweise bleiben. Durch eine lange Erfahrung belehrt, muß ich vermuten, daß man die Hinweise nicht als Weisung aufnimmt, sich selber auf den Weg zu machen, um der gewiesenen Sache selbständig nachzudenken. Man wird die Hinweise als eine von mir geäußerte Meinung zur Kenntnis nehmen und als solche weiterverbreiten. Jeder Versuch, Gedachtes der herrschenden Vorstellungsweise näherzubringen, muß selber das zu Denkende diesen Vorstellungen angleichen und dadurch die Sache notwendig verunstalten.
Diese Vorbemerkung ist kein Klagelied eines Mißverstandenen, sondern die Feststellung einer fast unaufhebbaren Schwierigkeit der Verständigung.
Die eine Frage Ihres Briefes lautet:
»Wie ist Ihre erste Erfahrung der Seinsfrage bei Brentano eigentlich zu verstehen?«
»bei Brentano« — Sie denken daran, daß die erste philosophische Schrift, die ich seit 1907 immer wieder durcharbeitete, Franz Brentanos Dissertation war: »Von der mannigfachen Bedeutung des Seienden nach Aristoteles« (1862). Brentano setzte auf das Titelblatt seiner Schrift den Satz des Aristoteles: τὸ ὄν λέγεται πολλαχῶς. Ich übersetze: »Das Seiende wird (nämlich hinsichtlich seines Seins) in vielfacher Weise offenkundig«.(1) In diesem Satz verbirgt sich die meinen Denkweg bestimmende Frage:
Welches ist die alle mannigfachen Bedeutungen durchherrschende einfache, einheitliche Bestimmung von Sein? Diese Frage
(1) vgl. Was ist das - die Philosophie? 1956 Schluß (S. 46)
»Das seiend-Sein kommt vielfältig zum Scheinen.«