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Das Wesen der Sprache

Welch ein heimlicher hauch

Schmiegt in die seele sich ein

Der jüngst-vergangenen Schwermut?


Stefan George pflegt mit Ausnahme der Wörter, mit denen die Verszeilen beginnen, alle Wörter klein zu schreiben. Es fällt auf, daß sich in diesem Gedicht ein einziges großgeschriebenes Wort findet. Es steht am Ende der mittleren Strophe und lautet: »Sage«. Der Dichter hätte dem Gedicht die Überschrift »Die Sage« geben können. Er unterließ es. Das Gedicht singt die geheimnisvolle Nähe des fern ausbleibenden Waltens des Wortes. Im Gedicht wird ganz Anderes auf andere Weise gesagt - und doch das Selbe gesagt wie jenes vorher zum Verhältnis des »ist« und des undinglichen Wortes Gedachte.

Wie verhält es sich nun mit der Nachbarschaft von Dichten und Denken? Wir finden uns ratlos zwischen zwei durchaus verschiedenen Weisen des Sagens. Im Lied des Dichters scheint das Wort als das geheimnisvoll Erstaunende. Die denkende Besinnung auf die Beziehung zwischen dem »ist« und dem undinglichen Wort gelangt vor etwas Denkwürdiges, dessen Züge sich ins Unbestimmte verlieren. Dort das Erstaunende in einem erfüllten singenden Sagen, hier das Denkwürdige in einem kaum bestimmbaren, jedenfalls nicht singenden Sagen. Und dies soll eine Nachbarschaft sein, der gemäß Dichten und Denken in einer Nähe wohnen? Beide laufen doch so weit als nur möglich auseinander.

Doch wir möchten uns mit der Vermutung befreunden, daß sich die Nachbarschaft von Dichten und Denken in diesem weitesten Auseinander ihres Sagens verbirgt. Dieses Auseinander ist ihr eigentliches Gegen-einander-über.

Wir müssen die Meinung ablegen, die Nachbarschaft von Dichten und Denken erschöpfe sich in einer geschwätzigen trüben Mischung beider Weisen des Sagens, wobei die eine bei der anderen unsichere Anleihen macht. Hie und da mag es diesen Anschein haben. In Wahrheit sind jedoch Dichten und


Martin Heidegger (GA 12) Unterwegs zur Sprache