dann diese Frage wieder aufgeworfen. Walther Rehm und Hugo Friedrich zweifelten zunächst, entschlossen sich dann aber doch mit Überzeugung zu der Interpretation videtur. Hugo Friedrich erinnerte außerdem daran, daß ihm ein altes, aber auch heute noch in Schwaben gebräuchliches Reflexivpronomen sei. In der Tat hätte ich mich darüber schon durch Grimms Wörterbuch unterrichten lassen können, wo der Gebrauch als Reflexiv bis 1800 allgemein und in Schwaben auch später noch bezeugt ist. Indes fand ich mich dadurch nicht genötigt, meine Auslegung zu ändern. Wir einigten uns dahin, daß Mörike eine Eigentümlichkeit seines Dialekts benutzt habe, um im Hochdeutschen den von mir geschilderten Eindruck zu erzielen, und sprachen dann noch eine Weile darüber, wie schwierig und vieldeutig offenbar auch ganz harmlose Verse sind und wie der Interpret nie behutsam genug vorgehen kann.
Nun hatte sich in Freiburg aber auch Martin Heidegger den Vortrag angehört. Er bekannte sich entschieden zu der Auffassung des scheint als lucet und hatte die Freundlichkeit, seine Ansicht in einem Brief folgendermaßen zu begründen:
»Um mit dem scheint in Mörikes Gedicht ins Klare zu kommen, muß man zunächst, aber zugleich rückwärts aufschließend für das ganze Gedicht, die beiden letzten Verse nach dem Gedankenstrich lesen. Die zwei Zeilen sprechen in nuce Hegels Ästhetik aus. Die Lampe, >das Leuchtendes ist als ein Kunst-gebild echter Art das σύμβολον des Kunstwerkes als solchen - in Hegels Sprache ›des Ideals‹. Die Lampe, das Kunstgebild (oschöne Lampe), bringt in eines zusammen: das sinnliche Scheinen und das Scheinen der Idee als Wesen des Kunstwerkes. Das Gedicht selbst ist als sprachliches Kunstgebilde das in der Sprache ruhende Symbol des Kunstwerkes überhaupt.
Aber mm zum scheint im besonderen. Sie lesen selig scheint es in ihm selbst als felix in se ipso (esse) videtur. Sie nehmen das selig prädikativ und das in se ipso zu felix. Ich verstehe es adverbial, als die Weise wie, als Grundzug des ›Scheinens‹, d. h. des leuchtenden Sichzeigens, und nehme das in eo ipso zu lucet.
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