braucht die Zerdenker, damit die übrigen Tiere nicht schlafen.« Durch dieses geistreiche Wort wurde die Situation mit einem Schlag verändert. Aber dieses Wort war nicht nur geistreich; es war vor allem ritterlich. Diesen auch sonst vornehm bekundeten ritterlichen Geist Ortegas gegenüber meinen Reden und Schriften habe ich um so höher bewundert und geschätzt, als Ortega vielem die Zustimmung versagte und durch manches beunruhigt war, was ihm seine Originalität zu bedrohen schien.

An einem Abend der Darmstädter Tage gab es ein Gartenfest im Hause des Stadtarchitekten. In vorgerückter Stunde fand ich auf einem Gang durch den Garten Ortega allein, seinen großen Hut auf dem Kopf, in einer Laube sitzen bei einem Glas Wein. Er war in gedrückter Stimmung. Er winkte mir, und ich setzte mich zu ihm, nicht nur aus Freundlichkeit, sondern weil mich die große Traurigkeit, die von seiner geistigen Gestalt ausging, gefangen nahm. Bald kam auch der Grund der Traurigkeit ans Licht der matt erleuchteten Laube. Ortega war verzweifelt über das Unvermögen des Denkens gegenüber den Mächten der gegenwärtigen Welt. Aber es sprach aus ihm zugleich eine Vereinsamung, die nicht erst durch äußere Umstände bewirkt sein konnte. Nach einigen kräftigen Zügen aus unseren Gläsern nahm unser stockendes Gespräch die Richtung auf die Frage nach dem Verhältnis des Denkens zur Muttersprache. Ortegas Züge heiterten sich plötzlich auf: Er wußte sich in seiner Heimat, und ich spürte aus den sprachlichen Beispielen, die er vorlegte, wie stark und unmittelbar er aus seiner Muttersprache dachte. Zur Ritterlichkeit gesellte sich mir ein Bild von ihm, die Einsamkeit seines Suchens, zugleich aber eine Kindlichkeit, die freilich bimmelweit entfernt von Naivität war — denn Ortega war ein scharfer Beobachter nicht zuletzt der Wirkung, die sein jeweiliges Auftreten erzielen wollte.

Die zweite Erinnerung geht zur Bühlerhöhe, wo wir an einem Sonntagvormittag heftig, aber in den schönsten Grenzen, die schärfsten Klingen kreuzten. Zur Frage stand der Seinsbegriff und die Etymologie der philosophischen Grundwerte. Die Auseinandersetzung


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Martin Heidegger (GA 13) Aus der Erfahrung des Denkens