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Seminar in Le Thor 1966

1) Bei Heraklit keine Dialektik - auch wenn sein Wort der Ansatz dafür ist, da das, was in diesem Sinne nach ihm begann, wortwörtlich das ist, »was der Morgen erst fand«.5

2) Alles Denken ist »umwillen des Seins«, gar nicht zu reden davon, daß dieses nur Gegenstand des Denkens sei.


9. September

»Der Schlange zum Wohl.«1

Heute sind wir im Haus des Dichters an den Lavendelfeldern versammelt. Schon morgen werden wir auseinandergehen, aber Heraklit bleibt uns nah, weil wir miteinander das Fragment 30 lesen wollen.

»Diesen κόσμος hier, sofern er der selbe für alles und für alle ist, keiner der Götter, auch nicht einer der Menschen hat ihn hervorgebracht, der schon immer war und der ist und sein wird: unerschöpflich lebendes Feuer sich in Maßen entzündend, in Maßen verlöschend.«

Eine Schwierigkeit hatte uns schon aufgehalten: wie soll das Adverb ἀεί verstanden werden, das wir durch »schon immer« übersetzt haben? Ist eine »ewige Welt« im Sinne von Aristoteles und der Scholastik gemeint? Bedeutet es aeternitas? Oder vielmehr sempiternitas? Wir erinnern uns an Braque: »Das Immerwährende gegen das Ewige«. Und weiterhin: »Das Immerwährende und sein Quellgeräusch«.2 Das Adverb scheint jedoch nur auf das Imperfektum ἦν bezogen, das lediglich auf » hat nicht hervorgebracht« entgegnet. Es bedeutet dann, daß diese Welt hier nicht gemacht worden ist, da sie in aller Zeit schon da war. Demnach


5 Das aus dem Leitspruch aufgenommene Char-Zitat deutet an, was das Denken im Anfang (»Morgen«) der abendländischen Geschichte ›zuerst‹ gefunden hat: das Fragen der Metaphysik.

1 Rene Char, Titel der Sammlung A la sante du serpent, Paris 1954 (GLM).

2 Georges Braque, Le j our et la nuit, cahiers 1917-1952, Paris 1952, S. 26, 50.


Martin Heidegger (GA 15) Seminare