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Die ontologische Differenz

Befremdlich ist der Satz in der Hinsicht, daß vom Sein gesagt wird, daß es »ist«, während doch allein das Seiende ist. Die Differenz widersteht beharrlich dem Versuch, sie als Differenz zu sagen; das Sein, es als Sein zu sagen.

Heidegger deutet an, daß es besser ist, hier das »ist« aufzugeben — und einfach zu schreiben:


Sein : Nichts


Wird man jedoch nicht einwenden, daß diese Formulierungen, deren Befremdlichkeit wir eben betont haben, tatsächlich schon in der Metaphysik vorkommen? Sagt nicht zum Beispiel Hegel am Anfang der »Logik«9: »Das reine Sein und das reine Nichts ist also das Selbe?« Vorerst ergibt sich hier die Aufgabe, den Satz recht zu verstehen. Noch eingehender ist sodann zu fragen: welche Beziehung könnte es zwischen dem Sein und dem Nichts bei Hegel und der Formulierung geben, auf die die außermetaphysische Ergründung der ontologischen Differenz als verborgener Quelle der Metaphysik geführt hat? Um diese Frage zu erörtern, fragt das Seminar nun nach dem Ort im Denken Hegels, an dem der obengenannte Satz zu finden ist.

Er steht am Anfang der »Logik«. Dieser Titel lautet eigentlich »Wissenschaft der Logik«. Die Aussage spricht vom Horizont eines Wissens aus (das Hegel anschaulicher macht, indem er sagt, daß es sich um die Gedanken Gottes vor der Schöpfung handelt).

Dies Wissen hat eine genaue philosophische Bedeutung. Es ist kein Wissen in dem Sinn, in dem die Wissenschaft von der Natur Wissen ist. Es hängt vielmehr mit jenem Wissen zusammen, aus dem Fichte in der» Wissenschaftslehre« (1794) Mitte und Verbund seines Denkens gemacht hat.

Es ist das Wissen, das ursprünglicher als alles Gegenstandswissen, ein Sichwissen ist. Bei Fichte läßt sich die Verabsolutierung


9 Erstes Buch, Erster Abschnitt, Erstes Kapitel, C 1.


Martin Heidegger (GA 15) Seminare - Seminar in Le Thor 1969

GA 15