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§ 13. Das Sprechendsein als Hörenkönnen

gegliedert werden soll, mit Bezug worauf diese verschiedenen άρεταί Seinsmöglichkeiten des Menschen sind. Die Gliederung bedarf eines Bodens, der genommen wird aus dem Sein des Menschen. Auch für die Aufteilung der Grundmöglichkeiten des Seins des Menschen wird von Aristoteles auf die Grundbestimmung des Seins des Menschen als λόγον ἔχον zurückgegriffen. Und zwar muß diese Bestimmung sich in ihrer Erweiterung zeigen, so, daß wir dabei λόγον ἔχον nicht nur im eigentlichen Sinne verstehen, sondern auch: Der Mensch ist ein Seiendes, das zu anderen etwas sagt und in eins damit sich von anderen etwas sagen läßt — diese ganz primäre Bedeutung von Sprechen im Sinne des Sich-etwas-sagen-Lassens-von-anderen. Sofern der Mensch der Sprechende ist, kann er zu sich selbst etwas sagen, er hat als Sprechender die Möglichkeit des Sich-von-sich-selbst-etwas-sagen-Lassens. Diese Möglichkeit offenbart sich darin, daß die Menschen miteinander sind in der Weise des Aufmunterns, Zuredens, Ermahnens. Sofern der Mensch sich etwas sagen läßt, ist er in einer neuen Hinsicht λόγον ἔχον: Er läßt sich etwas sagen, sofern er hört: er hört nicht in dem Sinne, etwas zu lernen, sondern eine Direktive für das konkrete praktische Besorgen zu haben. Dieses Hörenkönnen ist eine Bestimmung der ὄρεξις. Λόγον ἔχον in diesem zweiten Sinne bezeichnet Aristoteles auch als ἄλογον. Die ὄρεξις ist nicht ohne weiteres Sprechen, sondern Hören. Ἄλογον wird in Anspruch genommen 1. für λόγον ἔχον in der Weise des Hörens, 2. Für ein solches Wie des Seins des Lebenden, das zum sprechen keinen Bezug hat. Dabei ist festzuhalten, daß auch die Bestimmung des θρεπτικόν und αὐξητικόν fundamentale Seins bestimmungen sind wie die αἴσθησις. Auch das Ernähren wäre hief gesehen, wenn man es als physiologischen Vorgang fassen wollte. Fortpflanzung ist zur Welt Bringen, Ernähren sich in der Welt Halten.

Wie stark der Seinscharakter des θρεπτικόν und αὐξητικόν behendig ist, zeigt De anima B, Kapitel 4: ὥστε πρῶτον περὶ τροφῆς καὶ γεννήσεως λεκτέον· ἡ γὰρ θρεπτικὴ ψυχή καὶ τοῖς ἄλλοις ὑπάρχει, καὶ πρώτη καὶ κοινοτάτη δύναμίς ἐστι ψυχῆς, καθ᾿ ἣν


Martin Heidegger (GA 18) Grundbegriffe der aristotelischen Philosophie