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§ 6. Die Wesensbeslimmung der ἐπιστήμη

b) Die Stellung der ἀρχή in der ἐπιστήμη. (Eth. Nic. VI,3; An. Post. 1,1)
Die Lehrbarkeit der ἐπιστήμη. ἀπόδειξις und ἐπαγωγή. Die Voraussetzung der ἀρχή


Die zweite Bestimmung des ἐπιστητόν Findet sich erst Eth. Nic. VI, 6: Das ἐπιστητόν ist ein ἀποδεικτόν (1140b35). Dies ist hier, VI,3, so ausgedrückt: die ἐπιστήμη ist διδακτή (1139b25-35), »lehrbar«, das ἐπιστητόν, das Wißbare als solches, ist μαθητόν (b25 sq), »lernbar«. Zum Wissen gehört, daß man es lehren, .h beibringen und, mitteilen kann Dies ist eine konstitutive Bestimmung für das Wissen, und nicht nur für das Wissen, sondern auch für die τέχνη1. Insbesondere ist das wissenschaftliche Wissen ἐπιστήμη μαθηματική. Und die μαθηματικοί τῶν επιστημών (71a3), die Mathematik, ist in einem ganz ausgezeichneten Sinne lehrbar. Aus dieser Lehrbarkeit wird deutlich, worauf es beim Wissen ankommt. Wissen ist ein Gestellteinzum Seienden, welches über die Aufgedecktheit verfugt, oheständig dabei zu sein. Wissen ist lehrbar, d. h. es ist mitzuteilen, ohne daß ein eigentliches Aufdecken stattzuhaben braucht. [25]

Ferner sind lehrbar und lernbar die λόγοι. Aristoteles denkt zunächst an das natürliche Sprechen. Hier gibt es eine doppelte Art des Sprechens. Wenn die Rhetoren in der öffentlichen Rede vor Gericht oder in der Volksversammlung sprechen, berufen sie sich auf das allgemeine Verständnis der Sachen, das jeder kennt. In solchem Reden werden keine wissenschaftlichen Beweise erbracht, sondern es wird eine Überzeugung bei den Hörern wachgerufen. Dies geschieht διὰ παραδειγμάτων, dadurch, das ein schlagendes Beispiel herangezogen wird, δεικνύντες τὸ καθόλουδιὰ τὸ δῆλον εἶναι τὸ καθ᾽ ἕκαστον (a8 sq): •Sie zeigen das Allgemeine auf«, das verbindlich sein soll für



1 Vgl. für das Folgende An. Post. I, 1; 71a2 sqq.

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